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Im Finsterwald. Die Darsteller versammelt um die Kulisse von Bühnenbildner Jan Pappelbaum.

© A. Declair

„Jugend ohne Gott“ an der Schaubühne: Ein Lehrer kämpft um sein Gewissen

Thomas Ostermeier inszeniert den Roman „Jugend ohne Gott“ als moralisches Drama eines Pädagogen. Dieser kommt während des NS zu einer bitteren Erkenntnis.

Was tun, wenn ringsum die Vernunft kollabiert und die Entmenschlichung gefeiert wird? Wenn Menschen Briefe schreiben, in denen sie sich selbst die Frage stellen: „Was verdanke ich Adolf Hitler?“ – und die Antwort in einem einzigen Wort zusammenfassen: „Alles!“ Dann bleibt nur die Wahl zwischen Kapitulation, Flucht oder Widerstand. Optionen, die sämtlich einen hohen Preis haben.

Mit einem Zeitdokument aus dem Jahr 1935 eröffnet Jörg Hartmann den Abend „Jugend ohne Gott“ von Thomas Ostermeier. Ein gewisser Horst R. aus Braunschweig hat damals zur Feder gegriffen, um seinen Führer zu preisen, um sich dankbar für die Brücken, Kanäle, Autobahnen, Flugplätze zu zeigen, die in Deutschland entstanden sind.

Er tat dies nicht zuletzt, weil er selbst „nach langer Arbeitslosigkeit nun wieder verdienen kann“. Klar, da scheint das Brechtsche Wort vom Fressen, der Moral und der naturgegebenen Reihenfolge von beidem durch, das auch Ödön von Horváth bestens vertraut war.

Regisseur Ostermeier, der nach der „Italienischen Nacht“ hier seinen zweiten Horváth binnen kurzer Zeit inszeniert, interessiert sich für die Brüche in der Dramatiker-Biografie, die er in der Hauptfigur des Romans „Jugend ohne Gott“ gespiegelt sieht – dem Lehrer, der vor einer entseelten, kaltherzigen und fischäugigen Schülerschaft steht, die sich geradewegs in den Nihilismus schraubt. Der aber eben nicht als faustreckender Antifaschist mit unerschütterlichem pädagogischem Kompass auftritt. Sondern als Zauderer und Zerrissener, den die Sorge vor dem Verlust von Stellung und Reputation plagt.

Horváth selbst, von den Nazis schließlich ins Exil gezwungen, hat aus blanker Existenznot zwischenzeitlich ja versucht, sich mit dem aufziehenden Regime zu arrangieren. Hat dem Kommunismus abgeschworen, um in die „Reichsschrifttumskammer“ aufgenommen zu werden. Und unter Pseudonym Drehbücher für Nazi-Schund geschrieben.

Großartig, wie Jörg Hartmann den Anpasser mimt

Den Lehrer, den Jörg Hartmann sehr klar als in Sarkasmus verkrochenen Melancholiker spielt, befällt zwar das Grausen, wenn er die Aufsätze zum Thema „Warum wir Kolonien brauchen“ korrigiert und beim Schüler N lesen muss: „Alle Afrikaner sind hinterlistig, feige und faul.“

Aber statt „sinnlose Verallgemeinerung“ zu notieren, wie es sein Impuls ist, belässt er es bei einer mündlichen Belehrung darüber, dass auch die Afrikaner Menschen seien. Was schon genügt, um den Senior des N (Damir Avdic spielt sowohl Vater als auch Sohn) auf den Plan zu rufen, der gegen das „Gift der Humanitätsduselei“ wettert.

Und später, wenn im Bühnenhintergrund als diffus-bedrohliche Video-Schliere der Nazi-Aufmarsch vorbeizieht, bekennt der Lehrer in der Fassung von Thomas Ostermeier und Florian Borchmeyer, er habe auch sein Fähnchen rausgehängt. Obwohl seine Stellung da längst verloren ist. Großartig, wie Hartmann sein Hadern am Selbstmitleid vorbeibalanciert.

Ein zweistündiger Gewaltritt

Um die Ambivalenzen und moralischen Migräne-Attacken dieses Pädagogen in Bedrängnis noch greifbarer zu machen, verteilt Schaubühnen-Chef Ostermeier dessen innere Monologe auf mehrere Spieler – auf Moritz Gottwald, der auch den glitschigen Schüler T spielt, diesen Prototypen des im Text beschworenen „Zeitalters der Fische“; und Veronika Bachfischer, die unter anderem auch als Schüler L, als Mutter des Z, als Forensikerin oder Lehrerin auftritt.

Mit einem achtköpfigen Ensemble in Wechselrollen (nur Hartmann bleibt durchweg Lehrer) verdichtet der Regisseur den Roman auf einen zweistündigen Gewaltritt durchs Gewissens-Dickicht, der sich im Kopf eines zum Kampf lange nicht Entschlossenen abspielt.

Bühnenbildner Jan Pappelbaum hat dazu einen kahlen Finsterwald auf die Bretter gesetzt, vor den mal Pulte gerollt, später Zelte oder ein Gerichtsstand geschoben werden – ein Ineinanderfallen der Schauplätze, das eine bestürmend fiebertraumhafte Atmosphäre schafft und auch den sich entspinnenden Horváthschen Kriminalfall in eine berückend unheilvolle Schwebe hebt. Der spielt sich in einem paramilitärischen Natur-Camp in der Nähe eines stillgelegten Sägewerks ab, das die Schüler mit Begeisterung absolvieren.

Mit Gott hat das alles wenig zu tun

Hier beginnt der Z (Laurenz Laufenberg) eine heimliche Liebschaft mit dem wilden Höhlenmädchen Eva (Alina Stiegler), wovon der Lehrer durch Tagebuchschnüffelei erfährt. Doch er schweigt. Als dann der N ermordet wird, fällt der Verdacht (fälschlich) auf den Z – und die Frage nach der Wahrheit ist nun nicht länger eine individuelle Angelegenheit, sondern wird zur Prüfung auf Zivilcourage.

Ostermeiers „Jugend ohne Gott“ – eine Koproduktion mit den Salzburger Festspielen, wo im Sommer die Premiere stattfand – entwirft damit quasi das Gegenbild zur Deutung, die Regisseur Nurkan Erpulat im Frühjahr am Gorki Theater vorgelegt hat. Der erzählte die Geschichte konsequent aus der Perspektive der Jugendlichen und erklärte ihren Nihilismus nicht zuletzt aus dem Frust über die bigotte Elterngeneration.

An der Schaubühne hingegen folgt man dem Pädagogen auf die Via Dolorosa der Erkenntnis seiner eigenen Feigheit – und seines Ringens um Aufrichtigkeit. Mit Gott und Frömmigkeit hat das alles eher peripher zu tun, trotz einer Fülle an religiösen Anspielungen im Text.

Horváth beklagt in seinem hellsichtigen, 1937 erschienenen Roman ja nicht den ausbleibenden Kirchgang der jungen Generation, sondern ein erodierendes Wertegerüst, das ihre Verrohung forciert. Wenn diejenigen verloren sind, auf denen doch eigentlich die Hoffnungen für eine bessere Welt ruhen, dann gute Nacht. Ein sehr irdisches Problem. Und die Kirche ist Teil davon.

„Die Reichen siegen immer“

In einer der stärksten Szenen – des Romans und der Inszenierung – tauscht sich der Lehrer mit einem in Ungnade gefallenen Dorfpfarrer (wiederum Laurenz Laufenberg) darüber aus, wieso die Kirche stets auf der Seite der Reichen stehe. Die Antwort des Geistlichen fällt so schlicht wie entwaffnend aus: „Weil die Reichen immer siegen.“

Im Gegensatz zur „Italienischen Nacht“, die Ostermeier durch den braunen Filter des gegenwärtigen Rechtsrucks betrachtet, belässt er „Jugend ohne Gott“ in den 30er Jahren. Was klug ist, weil sich die Zeitparallelen hier weniger aufdrängen, weil die historischen Kurzschlüsse zwischen ausgehender Weimarer Republik und Heute oft mehr vernebeln als erhellen. Die Horváthsche Aktualität ist ja sowieso gegeben.

[Nächste Vorstellungen: 9. bis 12. September, 20 Uhr (ausverkauft)]

Sein Herzensthema – die toxische Verquickung von unterdrückten Trieben und prekärer ökonomischer Lage, wie ja auch in „Geschichten aus dem Wiener Wald“ oder „Kasimir und Karoline“ verhandelt – bleibt unerledigt. Es hallt heute wider, wenn Wutbürger nach Hetzjagden auf Migranten in ihren Städten scheinbar zusammenhangslos in die Kamera brüllen: „Ich habe 40 Jahre lang gearbeitet!“ Genauso drängend gegenwärtig ist die von Ostermeier zugespitzte Frage nach der Verantwortung des Einzelnen, Vorbild zu sein.

Das „Zeitalter der Fische“, das im Roman ein verkrachter, erotomaner Ex-Lehrer mit Spitznamen Julius Caesar ausruft (hier irrlichternd gespielt von Bernardo Arias Porras), ist ja eben kein Naturschicksal. Der Mensch hat es selbst in der Hand, ob er untergehen will oder nicht.

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