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Das Semer Ensemble mit Alan Bern (oben, Mitte) im Maxim Gorki Theater.

© Luca Jabob

Jüdisches Schallplattenlabel: Damit die Welt größer wird

Semer hieß ein jüdisches Schallplattenlabel, das bis 1938 existierte. Jetzt hat ein Ensemble dessen Musik wiederentdeckt und unter dem Titel "Rescued Treasure" neu eingespielt.

Kein Klezmer, das ist das Kuriose. Die wiederentdeckte Musik des letzten jüdischen Labels, das in Berlin unter den Nazis bis 1938 durchhielt? Das muss doch Klezmer sein. Zumindest assoziiert das der mit Klischees verkleisterte Kopf. Doch der Katalog des Semer (Hebräisch für Gesang) genannten Musikverlags enthielt alle Genres – Synagogalmusik, jiddische Volkslieder, Theatermusik, Kabarettlieder, von jüdischen Künstlern gesungene Schlager der Zeit –, doch keinen Klezmer. Diese Gebrauchsmusik, die auf Hochzeiten und Geburtstagen erklang, hat kein einziges jüdisches Label in den dreißiger Jahren auf Schellackplatten aufgenommen. Warum das so ist, können weder der Musikethnologe Rainer Lotz noch der Musiker Alan Bern sagen.

Dem in Bonn ansässigen Grammy-nominierten Diskografen und Musikpublizisten Lotz und dem in Berlin lebenden Spezialisten für neue jüdische Musik Bern ist es zu verdanken, dass die Musik von Semer in doppelter Hinsicht wiederauferstanden ist.

Dreißiger Jahre Klang trifft auf die Gegenwart

Bern hat im Auftrag des Jüdischen Museums ein Ensemble zusammengestellt und Lieder aus dem Semer-Katalog neu eingespielt. „Rescued Treasure“ heißt das live, aber Applaus-frei im Maxim Gorki Theater aufgenommene Konzeptalbum, auf dem Musiker wie Jazzbassist Martin Lillich, Klezmatics-Sänger Lorin Sklamberg und der Punk-Klezmer Musiker Daniel Kahn vertreten sind. Seine Auswahl beruht auf der Kärrnerarbeit von Rainer Lotz, der bereits 1992 auf die verschollenen Aufnahmen aufmerksam wurde und nach einer um den ganzen Erdball führenden Recherche 2001 eine umfängliche CD-Box samt ebenso voluminösem Buch bei Bear Family Records herausbrachte. „Wir haben den Nazis gleich in mehrfacher Hinsicht ein Schnippchen geschlagen“, freut er sich im Gespräch. Durch die historischen Aufnahmen, die den von den Nazis verfolgten Interpreten wieder Stimme – und einer gewaltsam ausgelöschten Musikkultur wieder Klang geben. Und durch die zeitgenössische Interpretation vom Semer Ensemble, das die Lieder nicht als Museumsstücke, sondern als Teil einer neu zu öffnenden musikalischen Tradition und Gegenwart betrachtet. Genau so hört sich das dann auch an. Im mit Klavier, Geige, Akkordeon, Trompete, Gesang orchestrierten Klangbild der Dreißiger, aber, etwa beim minimalistisch arrangierten Traditional „Das Kind liegt in Wigele“, roher und experimenteller gespielt.

„Ich wollte nicht nur zitieren, sondern komplett eintauchen, reine Identifikation, keine Ironie“, sagt Bern, der ebenso wie seine in zehn Sprachen parlierende Truppe sowohl vom Freejazz wie aus der Klassik kommt. Vor zehn Jahren wäre das vielleicht ein Museumsprojekt geworden, aber jetzt sei es sehr zeitgemäß, glaubt er, „auch weil hier so viele Musiker mit jüdischen Wurzeln aus Russland, den USA oder Israel leben, die sich damit identifizieren können“. Die Pluralität der Kultur, die künstlerischen Impulse von überall her erinnern ihn an das Vorkriegs-Berlin, in dem Hirsch Lewin 1930 seine Hebräische Buchhandlung gründet, aus der 1932 sein Plattenverlag Semer wird. Lewin stammt aus Vilnius und wird im Ersten Weltkrieg als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. In der ehemaligen Grenadierstraße, heute Almstadtstraße, im einst ostjüdisch geprägten Scheunenviertel, findet er eine neue Heimat.

Gründer Hirsch Lewin
Gründer Hirsch Lewin nach der Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen 1941.

© Privatbesitz Zeev Lewin/JMB

Nach dem Berufsverbot für jüdische Künstler 1933 wird sein Label zum Hort für die ihrer Verdienst- und Auftrittsmöglichkeiten beraubten Musiker und Kabarettisten. Dazu gehören Israel Bákon, der, was heute laut Alan Bern kaum denkbar wäre, sowohl ein berühmter Kantor als auch ein populärer weltlicher Sänger ist, und auch der Theaterstar Dora Gerson. Die beiden wunderschönen Balladen „Die Welt ist klein geworden“ und „Vorbei“, die jetzt die zum Ensemble des Maxim Gorki Theaters gehörende Sängerin Sasha Lurje aus Riga interpretiert, hat ursprünglich die in Auschwitz ermordete Schauspielerin gesungen.

Echos der Vergangenheit in der Almstadtstraße

Hirsch Lewin selbst, dessen Label samt 4500 Schallplatten und 250 Matrizen in der Pogromnacht von SA-Horden gebrandschatzt wird, schaffte es nach der Haft im KZ Sachsenhausen und einer abenteuerlichen Flucht aus Deutschland nach Palästina, wo sich seine Familie 1944 wiedertrifft. Auch hier gründet er ein Musiklabel und führte es bis zu seinem Tod 1958. Für Rainer Lotz, der auch die Kataloge dreier weiterer jüdischer Labels aus Berlin recherchiert hat, ist Lewins Katalog wegen der traditionellen wie auch der Kabarettlieder „eine einzigartige Kulturtat“. Dass das für alle Zeiten ausradiert sein sollte, wollte er nicht akzeptieren.

Haus Almstadtstraße 10 in Mitte
Das Haus Almstadtstraße 10 in Mitte, wo das Lebel Semer saß.

© Gunda Bartels

So wenig wie Alan Bern, der sich als säkularer Jude seit 30 Jahren mit jüdischer Musik beschäftigt. Zwar ist in der menschenleeren Almstadtstraße vor dem Haus Nummer zehn vom einstigen Vielvölkertrubel des Scheunenviertels nichts mehr zu merken, doch er spürt hier sehr wohl die Echos der Vergangenheit und hört den Klang einer europäischen Tradition, die durch die Semer-Lieder einige Farben zurückerhält.

Die Gegenwärtigkeit des Vergangenen hat den Bandleader, Komponisten und Philosophen aus der Universitätsstadt Bloomington im US-Bundesstaat Indiana in Berlin von Anfang an umfangen. „Das ist in der Atmosphäre.“ Deswegen wollte er bleiben. Seit 1987 lebt er hier und seit 1999 auch in Weimar, wo er den „Yiddish Summer“ und die „Other Music Academy“ leitet.

Lässt man sich von ihm die vielfältigen musikalischen und historischen Bezüge jüdischer Musik erklären, hört man von so erstaunlichen Genres wie dem Aguna-, dem Scheidungs-Lied. Diese Weisen, die von den Nöten zurückgelassener Frauen erzählen, sind die Volksmusik gewordene Folge der Auswanderung von Millionen osteuropäischer Juden in den Jahren 1880 bis 1920. Die Männer gingen, die Frauen und Kinder blieben zurück. Manchmal für immer, denn viele fanden in der Fremde ein neues Glück. Und für die Scheidung genügte ein Brief. Davon erzählt der Song „Lebka fährt nach Amerika“. Er war Hirsch Lewins absolute Hitnummer.

Album: Semer Ensemble „Rescued Treasure“ erscheint bei Piranha. Konzerte: Jüdisches Museum Berlin, 25.6., 18 Uhr (mit Gespräch Alan Bern und Rainer Lotz); E-Werk Weimar, 26.6., 20.30 Uhr

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