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Einst Hort des Widerstands. 1920 ließen der Sänger Dirk Witte und seine Frau in Naarden im Gooiland östlich von Amsterdam und nördlich von Utrecht zwischen Weiden und Wäldern ein Traumhaus bauen, das „Hohe Nest“ ('t Hoge Nest). So sieht es 2018 nach der Renovierung durch Roxane van Iperen aus.  

© Jan Willem Kaldenbach

Jüdischer Widerstand in den Niederlanden: Um sie herum nur Nazis und Kollaborateure

Roxane van Iperen hat mit ihrem Buch „Versteck unter Feinden“ dem jüdischen Widerstand ein Denkmal gesetzt. Die Spur führt bis nach Berlin.

„Mensch, trau dich zu leben“ – Dirk Wittes Hit von 1917, ein optimistisches Lied der Selbstvergewisserung, der Ermutigung und des Protestes in harten Zeiten, ist immer noch populär in den Niederlanden. Witte startete nach diesem Erfolg als Sänger durch und mit Hilfe seiner wohlhabenden Frau ließen sie 1920 in Naarden im Gooiland östlich von Amsterdam und nördlich von Utrecht zwischen Weiden und Wäldern ein Traumhaus bauen, das „Hohe Nest“.  

Witte konnte nicht ahnen, dass dieses Haus einmal ein Zentrum des jüdischen Widerstandes in den Niederlanden werden sollte, ein Ort, der verfolgten Juden Schutz bot in einer Nachbarschaft, in der Nazi-Größen der Niederlande wohnten. Doch diese abenteuerliche Geschichte war bisher weitgehend unbekannt, bis die Autorin und Juristin Roxane van Iperen mit ihrem Mann 2012 beschloss, das „Hohe Nest“ zu kaufen. Mit dem Wohnmobil kampierte die fünfköpfige Familie lange im Garten, bis sie das stattliche Haus selbst renoviert hatten. Sie „entdecken in nahezu jedem Zimmer Luken im Holzboden und Verstecke hinter alten Vertäfelungen. Dort finden wir Kerzenstummel, Notenblätter und Zeitungen des Widerstands aus dem Zweiten Weltkrieg“, schreibt Roxane van Iperen im Vorwort zu ihrem Buch „Ein Versteck unter Feinden“, das 2018 in den Niederlanden ein großer Erfolg wurde.

[Roxane van Iperen: Ein Versteck unter Feinden. Die wahre Geschichte von zwei jüdischen Schwestern im Widerstand. Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020. 400 Seiten. 24€.]

Als die Autorin Roxane van Iperen mit ihrem Mann das Haus kaufte, fanden sie überall doppelte Böden, heimliche Verstecke, Notenblätter und Zeitungsschnipsel aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sie begann zu recherchieren.
Als die Autorin Roxane van Iperen mit ihrem Mann das Haus kaufte, fanden sie überall doppelte Böden, heimliche Verstecke, Notenblätter und Zeitungsschnipsel aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sie begann zu recherchieren.

© Jan Willem Kaldenbach

„Die Funde haben uns neugierig gemacht“, erzählt Roxane van Iperen am Telefon, „wir fragten nach in Naarden und im benachbarten alten Fischerdorf Huizen, doch jeder erzählte uns eine andere Geschichte.“ Der Ehrgeiz der Journalistin war geweckt, das Geheimnis des Hauses zu lüften. Sie fand recht schnell in der Monografie von Ad van Liempt über die „Judenjäger“, die niederländischen Kollaborateure, ein Kapitel über den Widerstand im „Hohen Nest“. Sie stößt bald auf die beiden engagierten jüdischen Schwestern Lien und Janny Brilleslijper aus ärmsten Verhältnissen in Amsterdam, die so viel Mut bewiesen hatten. „Warum kennt niemand diese beiden Frauen“, fragte sich van Iperen und tauchte immer tiefer in deren Geschichte ein, bot sie Tageszeitungen rund um den Befreiungstag am 5. Mai an, doch niemand zeigte Interesse. Erst als sie mit ihrem Verleger über ihren neuen Roman sprach und ihn nebenbei um einen Kontakt zu einer Zeitung für die Geschichte des Hauses bat, wurde dieser neugierig und befand, dass dies nun ihr neues Buch werden müsse.

Die Schwestern kannten Anne und Margot Frank

„Elemente der Geschichte waren bekannt, auch dass die beiden Schwestern die Familie Frank kannten und Anne und Margot von Auschwitz nach Bergen-Belsen begleiteten. Aber die Zeit davor im ,Hohen Nest‘ tauchte nirgends auf“, erzählt van Iperen.

Nach all den Jahren musste van Iperen feststellen, dass die Niederländer über den Zweiten Weltkrieg und die Besatzungszeit viel weniger wissen, als sie zugeben. Mit dem Material und der Geschichte des Hauses reifte der Plan, eine ehrliche Geschichte der Besatzungszeit in den Niederlanden zu schreiben – und das ist ihr hervorragend gelungen. „Ein Versteck unter Feinden“ ist kein rein historisches Sachbuch und auch kein Roman, alles ist aber historisch belegt und liest sich dennoch spannend wie ein Roman.

Spielende Kinder im Garten des "Hohen Nestes", Rob in der Wanne, Kathinka rechts. Im Hintergrund ist das Teehaus zu sehen, 1943
Spielende Kinder im Garten des "Hohen Nestes", Rob in der Wanne, Kathinka rechts. Im Hintergrund ist das Teehaus zu sehen, 1943

© Privatarchiv Rob Brandes

Aufgebaut ist das Buch wie eine Reuse, die am Ende immer enger wird, bis es kein Zurück mehr gibt. Van Iperen gibt einen tiefen lebendigen Einblick in das jüdische Leben in Amsterdam vor dem Ersten Weltkrieg. 1912 wird Rebekka Lientje Brilleslijper geboren, vier Jahre später folgt Janny und 1921 der Bruder Japie. „Lien ist spontan und extrovertiert, … Janny ist nüchtern, mitunter sogar reserviert und verfügt über einen eisernen Willen, genau wie ihre Mutter“, schreibt van Iperen.

Lien zeigt musikalisches Talent, besucht nach der Arbeit als Näherin ein Tanzstudio und tritt alsbald in den Cabarets um den Rembrandtplein auf. Janny bildet sich neben der Arbeit als Näherin fort, lernt etwas Englisch, Französisch und Deutsch und absolviert einen Erste-Hilfe-Kurs, der sich als entscheidend herausstellen sollte. Sie interessiert sich sehr für Politik, verkehrt in linken Kreisen und arbeitet mit 19 Jahren bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 für die Internationale Rote Hilfe im Untergrund.

Lien wohnt in einer Künstlerkommune in Den Haag und lernt dort den deutschen Musikwissenschafter, Konzertpianisten und Deserteur Eberhard Rebling kennen, der vor den Nazis geflohen war. Über Lien lernt Janny viele Künstler und Intellektuelle kennen, darunter auch Bob Brandes aus dem Vorstand der Sozialdemokratischen Studentenvereinigung.

In Naarden wohnten während des Krieges viele hochrangige niederländische Nazis. Ausgerechnet hier versteckten die Schwestern Lien und Janny Brilleslijper verfolgte Juden. Über der Tür ist das Schild "t Hooge Nest" zu erkennen, Vorderseite, 2018
In Naarden wohnten während des Krieges viele hochrangige niederländische Nazis. Ausgerechnet hier versteckten die Schwestern Lien und Janny Brilleslijper verfolgte Juden. Über der Tür ist das Schild "t Hooge Nest" zu erkennen, Vorderseite, 2018

© Jan Willem Kaldenbach

Am Beispiel dieser beiden Paare und ihrer Familien und Freunde erzählt Roxane van Iperen, wie sich die Niederlande unter der deutschen Besatzung verändert haben. Zunächst scheint alles seinen Gang zu gehen, doch die Besatzer greifen relativ schnell durch und beginnen, die niederländischen Juden systematisch auszugrenzen und zu verfolgen. Juden waren in den Niederlanden ein integraler Bestandteil der Gesellschaft, ihre Jude-Sein wurde ihnen von der Besatzungsmacht erst schmerzhaft ins Bewusstsein gehoben.

1941 kommt es zur ersten Razzia am Jonas Daniel Meijerplein, 427 Männer werden verhaftet und deportiert, nur zwei Männer überleben. Unvorstellbares erleben die Schwestern, im Erdgeschoss von Jannys Wohnungen wird die Zeitung des NSB, der Nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande gedruckt, während ein Stockwerk höher Bob Brandes die erste Widerstandszeitung „Het Signaal“ vervielfältigt. Sie gewähren verfolgten Juden und zunehmend auch verfolgten Kommunisten Unterschlupf, besorgen falsche Papiere, und Lebensmittelkarten. Man staunt über die Kaltblütigeit und den Mut der Schwestern.

Das "Hohe Nest" lag gut versteckt im Wald.
Das "Hohe Nest" lag gut versteckt im Wald.

© Jan Willem Kaldenbach

Die Situation verschärft sich zunehmend, die Familien müssen Amsterdam verlassen und in Bergen aan Zee untertauchen, bis es auch dort wegen des Baus des Atlantikwalls nicht mehr sicher ist und sie von zwei wohlhabenen Schwestern das Sommerhaus in Naarden mieten können, das „Hohe Nest“, das sehr abgelegen im Wald liegt. Hier, in der ehemaligen Villa von Dirk Witte, trauen sich die jungen Familien zu leben, erfüllen sie seinen Gassenhauer mit Leben.

Bruder Jaap Brilleslijper baut die Verstecke im "Hohen Nest"

Sie verstecken Juden und Widerstandskämpfer. Bruder Jaap baut die Verstecke ein. Andererseits musizieren die Untergetauchten, führen eine Art Künstler-WG im Schutz des Waldes, die Kinder spielen im Garten. Um sie herum wohnen in Naarden die NSB-Größen in prächtigen Häusern, niederländische Nazis und Kollaborateure, gut bürgerlich. Selbst der NSB-Führer Anton Mussert wohnte in der Nachbarschaft des „Hohen Nestes“ bei seiner Geliebten.

Roxane van Iperen hat dem bisher verkannten jüdischen Widerstand ein Denkmal gesetzt und ihren Landsleuten die Augen geöffnet. Sie zeichnet die beiden Frauen und ihre Familien in ihrer Vielschichtigkeit, das Leben im Untergrund und der Isolation und die ständige Angst vor der Entdeckung. Einmal fragt ein Trupp deutscher Soldaten nach dem Weg zum Ijsselmeer. Sie geben den Soldaten in dem Haus, in dem so viele Juden versteckt sind, Milch zu trinken und zeigen ihnen den Weg. Zum Dank bekommen sie noch einen Passierschein, den sie später gut einsetzen können.

Als die Nazis mit der Deportation der Juden nach Westerbork und Auschwitz beginnen, propagieren die Kommunisten den gewaltsamen Widerstand, der Kampf wird härter und auf beiden Seiten gibt es Tote.

Der Garten von "t Hooge Nest", 2018 ist von außen schwer einzusehen und bot daher den untergetauchten Familien mit Kindern Schutz.
Der Garten von "t Hooge Nest", 2018 ist von außen schwer einzusehen und bot daher den untergetauchten Familien mit Kindern Schutz.

© Jan Willem Kaldenbach

Letztendlich wird die Gruppe verraten und das „Hohe Nest“ gestürmt. Es gelingt, die Kinder in Sicherheit zu bringen, die Bewohner von Huizen, dem Fischerdorf zeigen mehr Widerstandsgeist als die des gutbürgerlichen Naarden.

Die Schwestern werden nach Westerbork, dann nach Auschwitz und schließlich nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie Unbeschreiblich es erleben. Durch Tagebücher und Gespräche mit den Kindern gelingt es van Iperen, den brutalen Alltag in dem KZ schonungslos darzustellen.

Die Schwestern geben sich Halt

„Aber jedes Mal, wenn sie ihren inneren Kern fast verlieren, finden sie beieinander den Halt, der den meisten hier fehlt. Durch die andere vergessen sie nicht, wer sie sind, weil die andere sie daran erinnert, was sei einmal waren: zwei Schwestern aus Amsterdam“, schreibt van Iperen. Nur so konnten die Schwestern die Hölle der KZ überleben.

Als sie nach der Befreiung von Bergen-Belsen endlich nach Amsterdam kommen, müssen sie feststellen, dass die Kinder mit den Fahnen nicht auf sie warten, sondern auf die kanadischen Truppen. In Oegstgeest bei Freunden findet mitten in einem Konzert die Wiedervereinigung der Familien einschließlich der Kinder statt.

Janny und Bob Brandes, circa 1956.
Janny und Bob Brandes, circa 1956.

© Privatarchiv Rob Brandes

Zu den Kindern der Untergetauchten hält Roxane van Iperen heute noch Kontakt, sie besuchen sie auch im „Hohen Nest“, denn dort wurde das Vermächtnis von Dirk Witte letztendlich erfüllt: „Mensch, trau dich zu leben.“

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Im Anhang finden sich Kurzbiografien der handelnden Personen. Eine Spur führt nach Berlin: Eberhard Rebling und Lien zogen 1952 nach Ost-Berlin, wo Rebling an der Hochschule für Musik arbeitete und deren Direktor wurde. Auf seine Anregung erfolgte die Umbenennung in Hochschule Hanns Eisler – die in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag feiert. Beide ruhen in einem Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.

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