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Zahn der Zeit. Regal im Stabi-Magazin mit Büchern der Displaced Persons.

© repro

Jüdische Kriegsflüchtlinge: Die Literatur der Geretteten

Nach dem Zweiten Weltkrieg erblühte die jüdische „Displaced Persons“-Literatur. Der Verein der Freunde der Staatsbibliothek kämpft heute um ihren Erhalt.

Die getrockneten Blumen zwischen den Deckeln waren niemandem aufgefallen. Erst als das Buch, eine hebräische Bibel, für Dokumentationszwecke in der Staatsbibliothek fotografiert werden sollte, kamen die Fliederblüten zum Vorschein. Zudem fand sich eine Notiz: „July 1945“.

Wem diese Bibel damals gehört hat, lässt sich anhand weiterer, bislang nicht entschlüsselter Einträge vielleicht rekonstruieren. Womöglich erzählt sie dann die Geschichte ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin.

Das Exemplar, gedruckt auf billigem Papier, arg ramponiert vom häufigen Gebrauch, ist so oder so ein Zeitzeugnis, das es zu bewahren gilt. Es stammt aus der Sammlung von „Displaced Persons Literatur“ der Staatsbibliothek zu Berlin.

Mit dem Begriff Displaced Persons (DPs) bezeichneten die Alliierten all jene Menschen, die durch den Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren hatten, die flüchten mussten, vertrieben oder verschleppt worden waren: Gefangene aus den Konzentrationslagern, Untergrundkämpfer:innen, Zwangsarbeiter:innen, Überlebende, die in Verstecken der Vernichtung entkommen waren. Auf sieben Millionen wird ihre Zahl geschätzt. Die meisten sollten möglichst schnell in ihre Länder zurückkehren.

Was im Falle der jüdischen DPs aber nicht so einfach war, wie man sich vorstellen kann. Weil so viele keine Heimat und keine Angehörigen mehr hatten. Für sie entstanden eigene Lager, vorwiegend in der amerikanischen Besatzungszone. Und die füllten sich nach 1945 schnell. Nicht zuletzt durch Fluchtbewegungen aus dem Osten, wo der Antisemitismus ebenso wenig wie in Deutschland überwunden war. Das Pogrom im polnischen Kielce 1946 etwa trieb Abertausende in die DP-Lager – von wo aus viele die Ausreise in die USA, nach Palästina oder in andere Länder planten.

Es existiert bis heute keine Bibliographie

Währenddessen, in diesem Wartesaalzustand der Ungewissheit und Entwurzelung, erblühte eine eigene Literatur. „Die jüdische Kultur und Religion ist eine des Wortes“, sagt Gwendolyn Mertz. Sie leitet die Geschäftsstelle der Freunde der Staatsbibliothek und setzt sich für den Erhalt und die Restaurierung der Displaced-Persons-Werke ein. „Mir zenen do! Wir sind hier!“ ist das Projekt überschrieben, mit der Refrainzeile einer Partisanenhymne des jüdischen Dichters Hirsch Glik, in der sich die unmittelbare Nachkriegsstimmung ausdrückt: Es gibt uns noch.

In einer Publikation, die begleitend zum Vorhaben des Fördervereins entstanden ist, erinnert sich die Holocaust-Überlebende und Berliner Ehrenbürgerin Margot Friedländer: „Wir wollten leben, wir glaubten an eine Zukunft trotz aller Verluste und Verletzungen“. Friedländer war nach der Befreiung des KZ Theresienstadt in ein DP-Lager im bayerischen Deggendorf gekommen. Dort gab es Zeitungen, Bücher, in die Gedenkblätter an Ermordete eingelegt wurden, auch Listen mit Suchmeldungen nach Vermissten, die überlebt haben könnten.

[Weitere Informationen zu dem Projekt unter: www.freunde-sbb.de]

Um 2009 wurde der Staatsbibliothek zu Berlin von einem niederländischen Antiquar eine größere Sammlung jüdischer DP-Literatur angeboten, erzählt Mertz. Man stellte daraufhin fest, dass die Bibliothek bereits einiger solcher Werke im Bestand hatte – sie waren nur nie so gekennzeichnet worden.

Es existiert auch bis heute keine Bibliographie, die einen Überblick schaffen könnte, wie viele Druckwerke und Handschriften in dieser Zeit nach dem Krieg entstanden sind. „Manche haben die Bücher aufbewahrt, andere haben sie weggeworfen, weil sie durch nichts daran erinnert werden wollten, was sie durchgemacht haben“, so Mertz.

Erinnerungen aus dem Ghetto

Fast alle der erhaltenen Schriften sind in Hebräisch gedruckt. Eine Ausnahme ist die Lagerzeitung „Undzer hofenung“ (Unsere Hoffnung), die im DP-Lager Eschwege Airbase in jiddischer Sprache, aber mit lateinischen Buchstaben entstand und von der die Staatsbibliothek die ersten 25 Ausgaben besitzt. Oder das Werk „She'erit Hapleta“ (Der Rest der Geretteten) des amerikanischen Militär- Rabbiners Abraham Klausner, im Untertitel: „An extensive list of survivors of Nazi tyranny published so that the lost may be found and the dead brought back to life“.

Klausner sammelte auf Reisen durch die DP-Lager die Namen von Überlebenden der Shoah, später wurden seine Zettel abgetippt und geordnet. Fünf Bände der „She'erit Hapleta“ mit 50 000 Namen kamen auf diese Weise heraus.

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Zum Bestand zählen aber auch literarische Werke wie der Roman „Dos Geto in flamen“ (Das Ghetto in Flammen) des Autors Shemuel Gelbart. Er verarbeitet darin seine Erinnerungen an die Zeit im Ghetto von Kauen, das die Nationalsozialisten im heutigen Kaunas errichtet hatten, der zweitgrößten Stadt Litauens.

Gewidmet ist es Gelbarts ermordetem Bruder. Andere Schriften sind Lehrbücher, auch Ratgeber für ein künftiges Leben in Palästina – und natürlich religiöse Werke. Die Nazis hatten ja alles an Bibeln, Gebetbüchern und Talmudim vernichtet, was ihnen in die Hände fiel. Nun wurden sie in den Lagern nachgedruckt. „Die eigene Identität musste sich neu finden“, sagt Gwendolyn Mertz.

Wenig Spuren sind erhalten geblieben

Mit dem Verein der Freunde der Staatsbibliothek sammelt sie Spenden, rund 80 000 Euro werden benötigt, um die DP-Literatur zu restaurieren. Genau so aber geht es um die Geschichte hinter den Büchern. Mertz und ihre Kolleg:innen spüren etwa den DP-Lagern nach, die für vergleichsweise kurze Zeit auch in Berlin existierten, bis zur Blockade durch die Sowjetunion 1948.

Drei existierten im amerikanischen Sektor, in Mariendorf, Düppel und Schlachtensee, eines in der französischen Zone in Wittenau. Viele Spuren sind davon nicht erhalten geblieben. Aber vielleicht gibt es noch Zeitzeug:innen, noch Literatur?

„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ wird 2021 gefeiert. Dazu passt das Projekt „Mir zenen do! Wir sind hier!“. Der Anlass freilich ist ein zeitloser: „Wir brauchen historische Fakten“, findet Mertz. „Aber wir brauchen auch die Geschichten dazu, um nicht zu vergessen, dass es um menschliche Schicksale geht“.

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