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Joni Mitchell 1972 in Amsterdam.

© Redferns

Joni Mitchell öffnet ihr Archiv: Zurück zum Zauber

Joni Mitchell veröffentlicht ihr unbekanntes Frühwerk. Es zeigt, wie die Folksängerin zum gefeierten Popstar aufstieg – und zur Stimme der Gegenkultur.

Wolken sind höchst poetische Gebilde. Augenblickserscheinungen, die sich nur schwer in Worte fassen lassen, weil sie sich, getrieben vom Wind, ständig verändern. Dass sie zwei Seiten – ein Oben und ein Unten – besitzen, können die Menschen erst erfassen, seitdem es ihnen gelingt, die Schwerkraft zu überwinden. Fliegen erweitert die Perspektive.

Von Wolken handeln viele Songs, der vielleicht schönste heißt „Both Sides, Now“ und stammt von Joni Mitchell. Mit ihrer berühmten, jedes Wort überaus klar artikulierenden Sopranstimme besingt sie Engelshaare, Canyons und „Eisschlösser in der Luft“, die sie vom Flugzeugsitz aus in den Wolken erkennt.

Von oben betrachtet wirken die Wolken euphorisierend, von unten ernüchternd. Sie bringen Regen und Schnee, blockieren die Sonne, engen ein. Der Refrain endet in Ratlosigkeit: „I really don’t know clouds at all.“ Wobei „clouds“ in den folgenden Strophen durch „love“ und „life“ ersetzt wird. Wolken, Liebe, Leben – mit alldem, sagt die Sängerin, kennt sie sich nicht wirklich aus.

Joni Mitchell war 23, als sie „Both Sides, Now“ schrieb. Sie saß im Flugzeug, vertieft in Saul Bellows Roman „Henderson the Rain King“, in dem der Held nach Afrika fliegt und die Wolken betrachtet. Kurz blickte sie auf, sah durchs Fenster ebenfalls auf Wolken und begann sofort, die ersten Zeilen zu notieren. „Ich hatte keine Ahnung, dass der Song mal richtig populär werden würde“, erzählte sie später in einem Interview.

Bislang kannte man Mitchells Lied vor allem in der feierlich getragenen, mit Streichern unterlegten Version, die 1968 auf ihrem Album „Clouds“ herauskam. Nun hat die kanadische Singer/Songwriterin den ersten Teil ihrer „Archives“-Anthologie mit frühen Aufnahmen aus den Jahren 1963 bis 1967 veröffentlicht (Rhino/Warner). „Both Sides, Now“ ist dort gleich in drei Live-Einspielungen vertreten, die völlig anders klingen: schneller, fröhlicher, begleitet nur von Mitchells Akustikgitarre.

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Tonträgerboxen werden gerne zum Jahresende auf den Markt gebracht, schließlich eignen sie sich bestens dafür, als Geschenk unter den Weihnachtsbaum gelegt zu werden. Mitchells Kompilation „Archives – Volume 1“, die 119 Stücke auf fünf CDs umfasst, ist nur der Auftakt. Weitere Veröffentlichungen sollen in chronologischer Reihenfolge hinzukommen. Ähnliche Großprojekte hatten schon Bob Dylan mit seiner inzwischen 15-teiligen „Bootleg Series“ und Neil Young gestartet, der unbekannte Teile seines Werks nicht nur auf CD und Vinyl, sondern auch auf der Website neilyoungarchives.com zugänglich macht.

Bemerkenswert ist Mitchells Sammlung schon deshalb, weil die bei Konzerten und Radioübertragungen mitgeschnittenen Stücke und die für Veranstalter oder Produzenten bestimmten Demos aus der Zeit stammen, in der sie noch keine Platten aufnahm. Sie zeigen, wie eine unbekannte, zunächst noch erkennbar schüchterne Folksängerin zu einer weltweit gefeierten Popkünstlerin aufgestiegen ist – und zu einer der bis heute wichtigsten Stimmen der Gegenkultur. Es sind puristische Songs, die nichts weiter brauchen als Mitchells glockenhellen, mitunter fröhlich kieksenden Gesang und ihr Gitarrenspiel, um ihren Zauber zu entfalten.

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Weil die Nachbearbeitung der Bänder alles Knistern und Rauschen getilgt hat, kommt man sich vor wie ein Zeitreisender, der im Oktober 1964 im Half Beat, einem Folkclub in Toronto, wirklich mit im Publikum gesessen haben könnte oder im Oktober 1967 im Canterbury House in Ann Arbor. Zwischendurch macht ein Ansager Scherze, manchmal erklingt Applaus. Es waren kleine, fast intime Konzerte, vielleicht haben auf den Tischen brennende Kerzen in leeren Weinflaschen gesteckt.

Einmal, in einer Radiosendung, fragt Joni Mitchell: „Möchte irgendjemand mitsingen?“ und intoniert ihre Hymne „The Circle Game“. Bei der Zeile „And the seasons they go round and round“ singen die Zuhörer mit, allen voran der sonor brummende Moderator. Es geht um die Zeit, die sich weiterdreht wie ein Karussell und alle zu Gefangenen macht. Am Schluss prophezeit der Moderator: „Das wird bald ein Klassiker sein.“ Womit er recht behalten sollte.

Inspiration von Dylan

Ein anderes Mal, bei einem Auftritt in Philadelphia, erzählt Joni Mitchell, dass Bob Dylan einen Song aus liegengebliebenen Zeilen anderer, unvollendeter Songs zusammengestückelt habe. Dann singt sie ihr Lied „What’s The Story, Mr. Blue?“, das sie nach demselben Prinzip schuf. Knittelverse über zerhackte Träume, „Teilzeit-Männer“ und „Teilzeit-Antworten“. Bob Dylan gehörte wie Neil Young zu ihren Idolen, dessen Jahrmarkts-Gassenhauer „Sugar Mountain“ sie hier fast ehrfürchtig covert. „Circle Game“ war ihre Antwort darauf.

Die durchgängige Botschaft ihrer Songs sei „einfach ein Glücksgefühl“, hat Joni Mitchell gesagt. Für sie war Musik ein Freiheitsversprechen, die Chance, der kanadischen Provinz zu entkommen, die sie als einengend empfand. 1943 als Roberta Joan Anderson in der Kleinstadt Fort Macleod geboren, wurde sie mit acht Jahren zum Opfer einer Polio-Epidemie. Obwohl ihre linke Hand danach teilweise gelähmt war, brachte sie sich das Gitarrenspiel mithilfe einer Unterrichtsplatte des Folk-Heroen Pete Seeger bei.

Anfänge, Aufbrüche. Von den ersten Aufnahmen, 1963 in einem kanadischen Radiostudio entstanden, geht ein rührender Charme aus. Mitchell ist noch auf der Suche nach einem Repertoire, sie singt den Absturz-Blues „House Of The Rising Sun“, die Whiskey-Moritat „Copper Kettle“ und betörend intensiv die Liebesballade „Fare Thee Well“. Die Bänder waren erst 2015 wieder aufgetaucht.

„Lange habe ich mich dagegen gewehrt, Folksängerin genannt zu werden“, sagte Mitchell vor Kurzem. „Ich fand nicht, dass es ein Etikett war, das mich gut beschrieb. Und dann hörte ich dieses wunderschöne frühe Zeug. Es hat mich dazu gebracht, meinen Anfängen zu vergeben. Mir ist klar geworden: Ich war eine Folksängerin.“

Neue Wege gehen

Sie wollte sich aus dem Korsett der Tradition befreien, neue Wege gehen. Einer ihrer ersten Songs heißt „Born To Take The Highway“. Geschrieben hat sie ihn auf dem Highway zwischen Toronto und Detroit, auf einer Fahrt, die einer Flucht gleichkam: weg aus Kanada, hinein in die USA. Am Steuer saß Chuck Mitchell, ein Folksänger aus Michigan, den sie in Toronto kennengelernt und überstürzt geheiratet hatte. Der Text feiert das Unterwegssein, unterlegt Hobo- und Tramp- Romantik mit persönlicher Erfahrung: „Any road at all is my way / Any place is where I’ve been.“ Alle Straßen gehören ihr, an jedem Ort will sie schon gewesen sein.

„Joni wurde zu Joni durch die mehr als zehntausend Stunden, die sie unterwegs war“, bemerkt der Popchronist David Yaffe in seiner exzellenten, unlängst in einer deutschen Ausgabe erschienenen Biografie („Joni Mitchell. Ein Porträt“, aus dem Englischen von Michael Kellner, Matthes & Seitz, Berlin 2020, 583 Seiten, 28 €). Unermüdlich ist Mitchell getourt, sie spielte in Jazzclubs, Coffee Houses, bei Festivals und im legendären New Yorker Gaslight Café, wo Joan Baez begeistert war von ihr. Es wurde eine lange Reise zum eigenen musikalischen Ich. Die jetzt veröffentlichten Aufnahmen sind Dokumente dieses Wegs.

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Die Ehe mit Chuck Mitchell verlief unglücklich und hielt nicht lang. Kreativ konnte er nicht mithalten mit ihr, Joni verachtete ihn bald als „Traditionsapostel“ und verspottete ihn in ihrer Ballade „I Had A King“ als Macker im Paisleyhemd, der sich in „eine andere Zeit“ zurückzieht. Joni Mitchells Texte wirken verrätselt, sind aber, wie Yaffe zeigt, oft autobiografisch verankert. Mit 21 Jahren hatte sie eine Tochter geboren und zur Adoption freigegeben. Das Geheimnis hat sie lange für sich behalten, in ihre Lieder schmuggelte sie aber immer wieder Botschaften an das Kind. Angefangen mit „Little Green“, wo es heißt: „So you sign all the papers in the family name / You’re sad and you’re sorry, but you’re not ashamed“. Sie ist traurig und es tut ihr leid. Aber sie schämt sich nicht.

Mit „Both Sides, Now“ gelang Joni Mitchell der Durchbruch. In der Version von Judy Collins eroberte es 1968 die Charts. Seither galt Mitchell als Songwriterin mit Gespür für Hits. Kurz darauf erschien ihr Debütalbum „Song To A Seagull“ bei Reprise Records, dem Label von Frank Sinatra. Auch Sinatra hat „Both Sides, Now“ aufgenommen, genauso wie Neil Diamond, Pete Seeger oder Nana Mouskouri. Das Stück wurde zum Evergreen.

Heute, mit 77 Jahren, hat sich die Sängerin weitgehend zurückgezogen. Eine Konzertbühne wird sie wohl nicht mehr betreten. 2015 war ein Aneurysma in ihrem Gehirn geplatzt, sie lag lange im Koma, musste das Sprechen und Gehen neu lernen. Umso großartiger, nun ihre frühen Werke wieder zu hören. Es sind Meilensteine des Pop, moderne Klassiker.

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