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Die Liebe ist ein ständiges Ringen. Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Safran Foer, 39.

© imago/Agencia EFE

Jonathan Safran Foer: Das Nichts ist von Dauer

Wild, reich, herz- und zwerchfellzerreißend: Jonathan Safran Foers jüdischer Familien- und Eheroman „Hier bin ich“.

Unmissverständlicher als mit so einem Titel kann ein Autor kaum zum Ausdruck bringen, dass er wieder da ist mit einem Roman, insbesondere wenn von ihm elf Jahre nicht mehr als ein Sachbuch über Vegetarismus erschienen ist: „Hier bin ich“ heißt der neue Roman des 1977 in Washington D. C. geborenen Schriftstellers Jonathan Safran Foer, dem man seine Großwerkhaftigkeit wegen der knapp siebenhundert Seiten schon von außen ansieht. Mit „Alles ist erleuchtet“ und „Extrem laut und unglaublich nah“ hatte Foer sich Anfang der nuller Jahre in die vorderste Reihe der US-Gegenwartsliteratur geschrieben, auch beim Publikum; mit zwei Romanen voller (Familien-)Geschichten und Geschichte gleichermaßen, der eine davon, „Extrem laut und unglaublich nah“, überdies gegenwartsnah vor dem Hintergrund der Anschläge auf das World Trade Center angesiedelt.

Bei so viel Resonanz wachsen sicher die Ansprüche eines Autors an sich selbst. So mag der Titel ein Aufschlag in eigener Sache sein, für demonstrativ zur Schau gestellte Ambitioniertheit stehen. Doch bezieht er sich auch ganz konkret auf den Dialog Gottes mit Abraham im ersten Buch Mose. Darin ruft Gott Abraham zu sich, auf dass dieser seinen Sohn Isaak opfere, und später wird Abraham noch einmal vom Engel des Herrn angesprochen, und beide Male erklärt Abraham, dass er höre, dass er bereit sei mit einem „Hier bin ich“. Was Foer motivisch durch sein Buch schlängeln lässt.

Gottvertrauen, Zweifel an Gott, jüdisches Gott- und Urvertrauen (im Tanach hätte Abraham seinen Sohn auf dem Jerusalemer Tempelberg geopfert), das Jüdisch-Sein überhaupt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die „Letzten ihrer Art“ aussterben; die, die dem Holocaust entkommen sind und davon Zeugnis ablegen können, und danach nur die Erinnerung bleibt, die Erinnerung an die Erinnerung – Jonathan Safran Foer holt in seinem dritten Roman weit aus, beginnend mit der kurzen Lebensgeschichte der ältesten seiner Figuren, des dem Tode nahe stehenden Isaac Bloch. Der überlegt „zu Beginn der Zerstörung Israels“, so der erste Satz des Romans, „ob er sich umbringen oder ins jüdische Seniorenheim bringen sollte.“

Bebendes Gottvertrauen

Isaac Bloch, der den Holocaust mit seinem Bruder Benny (und anders als fünf Geschwister, Eltern und Großeltern) in einem Erdloch überlebt hat und über Russland in den USA landet, ist das Oberhaupt der in Washington D.C. lebenden Familie, deren Wohl und Wehe im Zentrum von „Hier bin ich“ steht. Foer erzählt die Geschichte von Jacob, einem Schriftsteller, der fürs Fernsehen schreibt, seiner Frau Julia, einer Architektin, die Style- und Inneneinrichtungsberatung macht, beide Anfang vierzig, und ihren drei 13, 10 und schätzungsweise 7 Jahre alten Kindern Sam, Max und Benjy. Des Weiteren sind da Irv, der Sohn Isaacs und Vater von Jakob, seine Frau Deborah sowie der in Israel lebende Tamir, der mit seinem Sohn Barak zu Besuch kommt. Tamir ist ein Cousin von Jakob und Enkel von Isaacs Bruder Benny.

Das Gottvertrauen wird in dieser Familie auf harte Proben gestellt, von innen wie von außen. Die Ehe von Jakob und Julia ist nach 16 Jahren kurz vor dem Auseinanderbrechen, „je mehr Leben sie teilten, desto stärker entfremdeten sie sich ihrem Innenleben“. Und Israel und seine Umgebung werden von einem verheerenden Erdbeben und mehreren Nachbeben erschüttert, was nicht die Zerstörung des Landes zur Folge hat, wie es der erste Romansatz suggeriert, es aber wegen der natürlichen Schäden und den plötzlich zu allen möglichen Kriegen fest entschlossenen Nachbarn in seiner Existenz bedroht.

„Hier bin ich“ ist primär ein jüdischer Ehe-, Familien- und auch obere US-Mittelschichts-Roman. Durch die Ereignisse in Israel bekommt er einen Zug ins Dystopische, von Foer dazu gedacht, biblische Referenzen unterzubringen („Kehrt heim“ sind mehrere Unterkapitel überschrieben, einmal heißt es, „am siebten Tag wird die gesamte Diaspora daheim sein“). Vor allem aber, um Jacobs Platz in der Welt zu erörtern und das Verhältnis der Juden Israels zu dem der amerikanischen zu diskutieren. Einer der schönsten Szenen ist das nächtliche Gespräch, das Tamir und Jacob nach der Beerdigung von Isaac führen. Von einer ihrer wenigen Erinnerungen, wie sie einst zu zweit in einen Löwenkäfig stiegen, kommen sie zur aktuellen politischen Lage und ihrer gewissermaßen transatlantischen Unterschiedlichkeit, gipfelnd in Tamirs Feststellung: „Deine Kinder schlummern auf Bio-Matratzen. Mein Sohn steckt mitten darin“, sagte er und zeigte wieder auf den Fernseher. „Ich gebe mehr als die Hälfte dessen, was ich habe, und du gibst allerhöchstens ein Prozent. Du willst Teil des großen Epos sein und bildest dir ein, mir vorschreiben zu können, wie ich mit meiner Familie umgehen soll, aber du gibst nichts, und du tust nichts. Gib mehr oder rede weniger.“

Dialoge dominieren

Jacob redet wirklich eine Menge. Er ist die konturierteste Figur dieses Romans, mit all ihren Vorlieben, Zweifeln, Neurosen, Unsicherheiten, Unausgegorenheiten, Schuldgefühlen. Das fällt besonders im Vergleich mit seiner Ehefrau auf, deren Motive und Eheprobleme Foer eher unzulänglich darstellt. Aber reden lässt er seine Figuren überhaupt sehr viel, und zwar miteinander. Perspektivisch geht es hin und her zwischen Jacob, Julia und manchmal Sam, dem ältesten Sohn, später kommen diverse Ansprachen von israelischen Politikern und deren arabischen oder persischen Kontrahenten dazu. Doch es dominieren hier die Dialoge, per Telefon, SMS oder Second Life, wo sich Sam eine virtuelle Parallelexistenz aufgebaut hat. Bisweilen drängt sich dabei der Eindruck einer gewissen Künstlichkeit auf. Die Gespräche, die Jacob mit Tamir oder Julia führt, mit seinen Söhnen oder Irv, die von Sam mit seiner Freundin Billie, sind einerseits rasant und witzig, stecken voller Einfälle und ungemeiner Schlagfertigkeit. Und doch fragt man sich: Wer redet eigentlich im richtigen Leben so? Zumal gerade die drei Kinder intellektuell ihren jeweiligen Jahrgängen lange entwachsen zu sein scheinen. Reden, reden, reden – darüber scheinen die einschneidenden Ereignisse im Leben der Blochs in Vergessenheit zu geraten, zu Nebensächlichkeiten zu werden, ob die vor allem mittels zweier geheimer Handys vollzogenen Seitensprünge Jacobs oder der Unfall Sams, der ihm die Finger seiner linken Hand verkrüppelt hat. Trotzdem gelingt es Foer, seinen Roman zusammenzuhalten. Das „Hier bin ich“-Leitmotiv trägt bis zum Ende, an dem Jacob das einzige Mal in der Ich-Perspektive sein Eheleben und in einem Zeitraffer das, was für ihn, Julia und die Kinder nach der Scheidung alles folgt, Revue passieren lässt (eines der hinreißendsten Kapitel des Romans!). Dabei fragt er sich, für wen Abraham nun da gewesen ist: für Gott? Seinen Sohn? Und Jacob, der an Gott zweifelnde, der mit Gott ringende, der dann doch nicht nach Israel fliegt, um für das Land zu kämpfen? Der eben woanders zu Hause ist? Der nicht zuletzt über den Einsatz für die Kinder seine Ehe aus den Augen verloren hat?

„Hier bin ich“ hat bisweilen etwas arg Hypermotorisches, Hochtouriges. Der Roman ist wild, aber reich, manchmal schlackernd, ein wenig nervtötend. Man spürt den unbedingten Willen Foers, ein auch zwerchfellzerreißendes Werk von umwerfender Genialität zu schaffen, einen großen jüdisch-amerikanischen Roman. Und wie er sich auf die Schultern von Giganten zu stellen versucht, ja, natürlich, Philip Roth oder Saul Bellow, um dabei die eigene Stimme zu finden. Aber warum nicht?

Großartig ist es wirklich, wie Jonathan Safran Foer Geschichte und Gegenwart miteinander verknüpft. Hier „das plötzliche Bewusstsein der Geschichte, so klein und doch so groß“, das Jacob verspürt, der Holocaust, der Nahostkonflikt – und dort sein kleiner Alltag, sein Sozialisation, in der zum Beispiel die Hardcore-Band Fugazi, eine Songzeile des Nirvana-Stücks „All Apologies“ oder der Tod von Oliver Sacks eine ähnlich gewichtige Rolle spielen wie der Zweitwagen oder das Haus mit Doppelwaschbecken oder Gebäudeversicherung. Dass Letzteres Jacob näher ist, er nur ein Jedermann ist, kein Held, erkennt er im Verlauf seines „restlichen“ Lebens. Doch er ist da, er ist bereit, als es darum geht, einem der ihm liebsten Geschöpfe, seinem Hund Argus, einen letzten Dienst zu erweisen.

Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 683 Seiten, 26 €

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