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Jens Hillje war bis 2019 Ko-Intendant des Maxim Gorki Theaters.

© Esra Rotthoff

Jens Hillje über Geschlechterbilder: „Wir erleben eine fundamentale Krise der Männlichkeit“

Menschen lieben Heldengeschichten. Aber was taugen sie in Zeiten von MeToo und Klimakatastrophe? Ein Gespräch mit Jens Hillje, Dramaturg am Gorki.

Der Dramaturg Jens Hillje war bis 2019 Ko-Intendant des Maxim Gorki Theaters in Berlin, zusammen mit Shermin Langhoff. 2019 erhielt er auf der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Sehr lange arbeitet er schon mit dem Autor und Regisseur Falk Richter zusammen: Dessen neuestes Projekt heißt „in my room“ und wird am 15. Januar am Gorki uraufgeführt.

Herr Hillje, auf der Homepage des Maxim Gorki Theaters steht aktuell eine Frage: „Was bedeutet es, im Jahr 2020 ein Mann* zu sein?“ Haben Sie schon Antworten?
Ja und nein. Die Frage öffnet 2020 jedenfalls ein wichtiges Feld der politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und sehr persönlichen Auseinandersetzung. Weil daran viele Konflikte angedockt sind, die unsere Gegenwart prägen und darüber entscheiden, wie wir in Zukunft leben werden. Ich glaube, dass wir uns in einer historischen Situation von Umbruch und Auseinandersetzung befinden, zwischen #MeToo, der Klimakatastrophe und dem Aufstieg der neuen Rechten, der eine Krise der liberalen Demokratie bedeutet.

Inwiefern ist das historisch?
Insofern, als wir in einer Gesellschaft leben, die womöglich ihre Probleme nicht mehr lösen kann. Das hätten wir in den vergangenen 30 Jahren nicht gedacht, oder? In unseren Erzählungen gibt es ja immer den Helden, der alle Probleme in den Griff kriegt, sei es in der künstlerischen Fiktion oder der politischen Realität. Also, it's the end of the one-hero-story! Und so sollte es auch sein.

Die Produktion „In my room“, die Sie mit Falk Richter entwickelt haben und die am heutigen Mittwoch am Gorki uraufgeführt wird, ist als Rechercheprojekt angekündigt. Wonach konkret forschen Sie?
Falk und ich arbeiten seit 20 Jahren zusammen. Diese Kooperation ist ein fortgesetztes, nie endendes Gespräch über die Frage, in welchem System, in welcher Situation wir leben, und was daraus resultiert. Unser Ausgangspunkt war eine Auseinandersetzung mit „toxischer Männlichkeit“, wobei ich den Begriff schwierig finde, weil wir es eigentlich mit einer fundamentalen Krise von Männlichkeit zu tun haben.

Wir sind in die Recherche eingestiegen mit dem Versuch, uns selbst als Männer zu reflektieren. Was wären wir gerne, was sind wir – und welche Bilder und Vorbilder haben uns geprägt? Was zum wichtigsten Mann im Leben führt, ob anwesend oder nicht, dem Vater.

Die gesamte Theatergeschichte ist voll von Vater- und Mutterkomplexen. Ist die Familie tatsächlich so schicksalhaft?
Ich finde, wir setzen uns viel zu wenig mit den Prägungen auseinander, die uns weitergegeben wurden, insbesondere als deutsche Männer. Falks Großvater ist begeistert in den Ersten und Zweiten Weltkrieg gezogen. Mein Großvater wurde 1945 im Strafbataillon zum Krüppel geschossen. Das war ein anderes Verhältnis zum Krieg, was wiederum damit zu tun hatte, dass mein Urgroßvater wie 14 andere junge Männer aus der Familie im Ersten Weltkrieg in Verdun verheizt wurde.

Szene aus „In my room“ mit Jonas Dassler.
Szene aus „In my room“ mit Jonas Dassler.

© Ute Langkafel

Was folgt daraus für die Gegenwart?
In einem Moment, wo wir uns weltweit, aber vor allem im Westen mit dem Wunsch nach der Rückkehr des autoritären, patriarchalen Mannes vonseiten der neuen Rechten auseinandersetzen müssen, dockt diese persönliche Frage direkt an die große politische an.

Wobei es ja nicht die gesamte Gesellschaft ist, die sich nach dem starken Mann sehnt. Es gibt die eine Hälfte, die sich weiterentwickelt in Richtung einer anderen Gleichberechtigung der Geschlechter, einer Diversität von Geschlechtsidentitäten – und es gibt eine Reaktion darauf…

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Die sich vor allem gegen die Emanzipation des Weiblichen und des Queeren richtet.
Die Abwertung des Weiblichen ist auch nach 100 Jahren Frauenwahlrecht und Emanzipation immer noch erstaunlich tief eingeschrieben in unsere Kultur. Falk Richter ist schwul, ich bin schwul. Natürlich suchen wir die Auseinandersetzung damit, was es heißt, ein queerer Mensch zu sein. Und das bedeutet, eine andere Gleichwertigkeit von weiblich und männlich und den vielen anderen Vorstellungen dazwischen anzustreben.

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Sind in der zwanzigjährigen Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Falk Richter die gesellschaftspolitischen Themen letztlich die gleichen geblieben?
Angefangen haben wir ja mit einem Projekt über den ersten Krieg, an dem wir Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben, im Kosovo, das war 2000 „Peace“ an der Schaubühne. Und daraus folgten Auseinandersetzungen mit dem neoliberalen System, das dahinter steht. Ich hätte nie gedacht, dass ich mir angesichts von Trump, Putin oder Orban noch mal die Zeit von Reagan und Thatcher zurückwünschen würde.

Zurück zum verlässlichen Feindbild?
Fortschritt und Backlash finden parallel statt, deswegen erleben wir die Gegenwart als so konfliktgeladen. Vor 20 Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass wir noch einmal so dringlich über 1932/33 sprechen müssten. Heute halte ich es für möglich, dass die Situation endgültig umkippt in eine neue Form von Faschismus in demokratischen Ländern.

Der anschwellende Nationalismus hat zugleich einen Ihrer größten Erfolge befeuert, das Stück „Verrücktes Blut“, das in die Debatte um Sarrazin platzte…
Meine Eltern hätten nie gedacht, dass die extreme Politisierung, die mich in meiner Jugend erfasst hat, auch mal für mein Berufsleben gut sein könnte. Beide hatten panische Angst, dass aus mir nichts wird. Ich war ja der erste in der Familie, der studiert hat. Meine Mutter hat mir empfohlen, eine Banklehre zu machen: Da kann dir nichts passieren, Junge…

Stattdessen haben Sie mit „revolutionärem Wirthaustheater“ begonnen...
Bayerische Wirtshäuser haben ja in der Regel Bühnen. Da tritt manchmal das Blasorchester auf, es wird aber auch Theater gespielt. Aus dieser Volkstheatertradition kommen ja ein Kroetz, ein Achternbusch, Schauspieler wie Sepp Bierbichler. In unserer Stamm-Gaststätte in Landshut haben wir Arthur Millers „Hexenjagd“ bajuvarisiert, kombiniert mit dem Haberfeldtreiben: Dabei werden Frauen, die sozial oder kulturell auffällig sind, durchs Haferfeld getrieben, weil das besonders sticht. Das war als soziale Maßregelung in Dörfern üblich.

Welche Wirkung hatte die Produktion?
Mit 15 hat man ja die Erwartung, dass die eigene Bereitschaft, alles zu ändern, sofort überspringt aufs Publikum, dass die Leute rausgehen, Barrikaden bauen und das System stürzen.

Hat sich Ihre Auffassung geändert, was relevantes politisches Theater sein sollte?
Was für mich am Gorki im Vergleich zur Arbeit an der Schaubühne ein nächster Schritt war, ist die Tatsache, dass hier Ensembles ganz anders in eine Autorschaft kommen. Als Fortschreibung der Tradition des Brechtschen Schauspielers, der als politischer Mensch auf der Bühne steht. Das bedeutet für mich auch einen Fortschritt in der Wirksamkeit von Theater. Im Zeitalter von Social Media erleben wir ja nicht etwa den Niedergang des Theaters, sondern eine Blüte. Weil die echte Begegnung mit anderen Menschen auf einmal etwas sehr viel Intensiveres, Verstörenderes geworden ist.

[Mehr zum Thema: Neuauflage von „Männerphantasien“ – von der Maskulinität zum Massenmord]

Sie sind am Gorki als Ko-Indendant mit Shermin Langhoff angetreten, was als Modell nun ausläuft. Warum?
Am Gorki wird es fortan ein Artistic Board geben, dem nicht nur ich als Dramaturg angehöre, sondern auch unsere Hausregisseure Yael Ronen, Nurkan Erpulat, Sebastian Nübling und Oliver Frljic. Das ist einfach eine andere Organisation von künstlerischer Leitung. Ich bin Theatermensch, das bin ich geworden, weil ich mich ständig verändern will. Ich habe zu viele Menschen am Wegesrand an dem festhalten sehen, was sie erreicht hatten.

Aber Sie bleiben dem Haus erhalten?
Ja, und zugleich eröffnen sich mir andere Möglichkeiten zu verfolgen, was mir ebenfalls am Herzen liegt. Ich will wieder vermehrt international tätig sein. Ich kann in Frankreich arbeiten, werde ein Projekt in Italien realisieren.

Sie sind 50 und haben bereits den „Golden Löwen“ in Venedig für Ihr Lebenswerk bekommen. Was bedeutet das für Sie?
Für mich folgt daraus, dass ich vermehrt an die nächste Generation weitergeben möchte, was ich kann und wichtig finde – egal, ob ich in Polen, Italien oder anderen Kontexten unterrichte. Damit ist auch der Wunsch verbunden, in eine Auseinandersetzung über die Konflikte zu kommen, mit denen wir europaweit konfrontiert sind. Aufgrund meiner über 30 Jahre Theaterarbeit glaube ich fest daran, dass sich der Blick von Menschen auf andere Menschen ändern lässt. Warum sonst sollte man sich mit Kunst auseinandersetzen?

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