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Buntes Reich am Nollendorfplatz. Erik Leuthäuser singt Standards genauso gerne wie Popchansons.

© Doris Spiekermann-Klaas

Jazzsänger Erik Leuthäuser: Im Land des Andersmachers

Er ist erst 23 und gilt bereits als Erneuerer seines Genres. Ein Treffen mit dem Berliner Jazzsänger Erik Leuthäuser.

Mittwoch Kaliningrad, Donnerstag und Freitag St. Petersburg, Sonnabend Kiew und in Berlin läuft ab Montag die Aufnahmesession für das nächste Album. Erik Leuthäuser kommt ganz schön herum mit seiner Musik. Sogar in den Zeiten des Coronavirus.

Auf die Mailanfrage in russische Weiten, ob das die in den nächsten Monaten nach dem Boxenstopp zu Hause in Berlin auch nach Asien führende Tour nicht gründlich durcheinanderbringt, antwortet er postwendend: keine Absagen aus Jazzclubs in Nepal, Taiwan, Thailand, Hong Kong, Japan oder den Philippinen. Aber manche Länder verlangten jetzt einen negativen Corona-Test. „Das muss ich in dieser Woche erledigen.“

Eine Residenz in Ulan Bator steht an

Das ursprünglich für Montagabend in der Bar jeder Vernunft angesetzte Konzert allerdings entfällt und wird später nachgeholt. Bar und Tipi am Kanzleramt sind bis zum 19. April wie die meisten anderen Berliner Kulturorte dicht. Mitte Mai will der Sänger die Tour dann in der Mongolei abschließen. Mit einer Künstlerresidenz in Ulan Bator, inklusive Konzerten im dortigen Fat Cat Jazzclub.

Ein Solokünstler, der hauptsächlich von Konzerten lebt, braucht gute Nerven und darf keine Reiseauflagen fürchten. Schon gar nicht, wenn er wie Leuthäuser sein eigener Booker ist und viel internationale Auftrittserfahrung hat. Die russischen Konzerte liefen ganz normal, mailt er. „Ich bin auf dem neuesten Stand und bereit für alle Änderungen.“

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Das kann man auch in anderer Hinsicht über den deutschen Erneuerer des Jazzgesangs sagen. Mit seinen 23 Jahren hat der Absolvent des Berliner Jazzinstituts eine erstaunliche Karriere hingelegt. Als Sänger des Bundesjazzorchesters, Gewinner von Jazzgesangswettbewerben von Montreux über Riga und Moskau bis nach Washington. Als Backgroundsänger von Quincy Jones, George Benson und DeeDee Bridgewater.

Und mit den Alben, die seit seinem 2015 gleich auf der Nominierungsliste für den Preis der deutschen Schallplattenkritik gelandeten Debüt „In the Land of Oo-Bla-Dee“ von einer großen musikalischen Bandbreite und Experimentierfreude erzählen.

Stimmexperimente mit der Loopstation

Sie reicht von Lyrikvertonungen mit dem A-cappella-Ensemble Wortart über die extravagante Popchanson-Platte „Wünschen“ (Edel Records), auf der er in Bandbegleitung mit Stimme und Loopstation experimentiert, bis zum soeben erschienenen Livealbum „In the Land of Irene Kral & Alan Broadbent“ (Mons Records). Dort intoniert er im Berliner Jazzclub A-Trane in Begleitung des Pianisten Wolfgang Köhler innig und konzentriert Standards.

Die meist melancholischen, klassisch gesungenen Balladen scheinen so gar nicht zu Erik Leuthäusers unkonventionellem Look aus gemustertem Overall, Ketten und Tattoos zu passen, den der Sänger als jüngster Neuzugang auf der Bühne der Bar jeder Vernunft trägt. Da bestreitet er regelmäßig ein an das Album „Wünschen“ angelehntes Programm mit Band und Gästen wie Lisa Bassenge und dem tollen Newcomer Atrin Madani.

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Dabei bewegt sich Erik Leuthäuser erstmals auf der Show- statt der gewohnten Clubbühne, was am Debütabend offensichtlich einen gewissen Erklärungsdruck mit sich bringt. „So viele Jazzsänger tragen Krawatte und Anzug und singen wie Frank Sinatra. Ich habe schon im Studium beschlossen, dass mache ich nicht“, erzählt er und zerlegt mittels eigenwillig phrasierendem Tenor und Loopstation genüsslich das Friedrich-Hollaender-Chanson „Wenn ich mir was wünschen dürfte“.

Viele im Publikum würden ihn sicher aus Jazz- oder Schwulenclubs kennen, mutmaßt er und fährt fort. „Ich komme aus Freital bei Dresden und habe es da irgendwie raus geschafft.“ Mit 19 Jahren nach Berlin nämlich, wo der am Sächsischen Landesgymnasium für Musik Carl Maria von Weber ausgebildete Sohn eines Jazzgitarristen in Judy Niemack, der ersten deutschen Professorin für Jazzgesang, eine Mentorin gefunden hat. Niemack, die lange die Gesangssparte des Jazzinstituts leitete, singt auf dem Livealbum auch bei der schönen Nummer „Spring Can Really Hang You Up the Most“ und einem anderen Lied mit.

Plakate von Billie Holiday und Ella Fitzgerald

Im Windschatten großer Sängerinnen fühlt sich Erik Leuthäuser sichtlich wohl. Das fällt beim Besuch in seiner Miniwohnung am Nollendorfplatz eine Woche später sofort auf. Plakate von Billie Holiday und Ella Fitzgerald zieren die Wand. „Als Jazzsänger hat man kein Riesenbudget“, sagt er, was man sowohl auf die bescheidene Bleibe wie auf seine Vorliebe für Vokalexperimente mit der Loopstation münzen kann.

Die erspart, wenn er verschiedene Harmonien einsingt oder Klatschgeräusche aufzeichnet und geloopt wieder abspielt, weitere Gesangsstimmen, Rhythmusgruppe und noch dazu teure Bandproben. Die Loopstation mache einen zum besseren Sänger, ist Leuthäuser überzeugt. „Ich höre sofort, wie ich gesungen habe, und kann mich berichtigen.“ Vom Volumengewinn durch psychedelische Halleffekte ganz zu schweigen. „Niemand kann besser mit dir harmonisieren als du selbst“, glaubt er, „das Blending, also die Vermischung der Stimmen, ist einfach optimal.“

Popchansons stehen neben Jazzstandards

Dass seine Alben so unterschiedlich ausfallen, ist nach Leuthäusers Lesart nur konsequent. Jedes repräsentiere einen Musiker in einer bestimmten Zeit seines Lebens. „Sowohl die Ästhetik und auch, wer man als Mensch ist.“ Dass er sich neben den Popchansons gerade wieder sehr für den traditionellen, Geschichten erzählenden Jazzgesang interessiert, verdeutlicht auch die Albumaufnahme, die diese Woche ansteht. „In the Land of Ronny Whyte“ widmet sich dem gleichnamigen US-Pianisten und Sänger. Und wieder begleitet Wolfgang Köhler, sonst Professor für Jazzklavier an der Hanns Eisler-Hochschule, seinen einstigen Schüler.

Inspirationsquelle Berliner Schwulenszene

Die Freiheit improvisierter Musik nennen alle Jazzmusiker als Motivation. Auch Erik Leuthäuser. Doch nur er bezeichnet auch die Berliner Schwulenszene als künstlerische Inspirationsquelle. Dort gebe es andere Werte als in der von Leistung und Virtuosität geprägten Jazzwelt. Mehr Genuss, mehr Individualität – auch im Erscheinungsbild. Er lacht. „Jazzsänger tragen keine Tattoos.“ Sondern genau die schwarzen Anzüge, die ihm nicht stehen.

„Der Jazz ist eine Machowelt, das fördern auch die Institutionen.“ Harte Konkurrenz, strikte Regeln, immer noch zu wenig Musikerinnen, auch in Jamsessions werde diese Linie weitergetragen. Sprüche wie „Play as if your dick is on the table“ gelten als Anfeuerung für ein geiles Solo.

In der Bar jeder Vernunft achten die Leute mehr auf Texte

Dem will der Sänger, Arrangeur und Komponist seinen entspannten, offenen Stil entgegensetzen. Der darf auch gerne textorientiert sein. Die Songs des „Wünschen“-Albums und Programms, die er in der Bar jeder Vernunft aufführt, stammen beispielsweise von der Berliner Liedermacherin Dota Kehr und natürlich aus seiner eigenen Feder. „Auf Texte achten die Leute in der Bar jeder Vernunft viel mehr als in Jazzclubs“, hat Erik Leuthäuser festgestellt.

Am 24. Mai ist die nächste reguläre Gelegenheit, das zu überprüfen. Unterdessen ist schon wieder eine Mail aus St. Petersburg da. „Es bleibt spannend“, mailt Erik Leuthäuser.

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