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Zuhause in Berlin. Der schwedische Jazz-Musiker Otis Sandsjö.

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Jazzfest Berlin: Otis Sandsjö muss beim Jazzfest ohne Publikum spielen. Das klingt anders

Der Schwede Otis Sandsjö lässt sich von Berlin für seine Musik inspirieren. Er liebt das Raue der Stadt.

Konzerte in Corona-Zeiten spielen? Knifflig. Während draußen der regenverhangene Himmel aufbricht und drinnen der Duft von rotem Curry und Ingwertee die Stimmung aufwärmen, macht Otis Sandsjö mit seiner Band Y-Otis Mittagspause. In einem vietnamesischen Restaurant in Prenzlauer Berg sind wir vor dem zweiten Lockdown verabredet.

Nur ein Bandmitglied fehlt. Der Blick gleitet aufs Handydisplay: „Es sieht ganz so aus, als ob Dan dabei sein kann“, sagt Sandsjö erleichtert. Die Rede ist von Keyboarder Dan Nicholls. Die Einreise aus London gestaltet sich pandemiebedingt schwierig.

Sandsjö und seine Band spielen ohne Publikum im Silent Green

Auch wenn alles klappt: Der Blick von der Bühne wird dieses Jahr gewöhnungsbedürftig sein. Sandsjö und seine drei Mitmusiker spielen am Freitag ohne Publikum im Silent Green. Zum ersten Mal in der 56-jährigen Geschichte findet das Jazzfest Berlin nur digital statt. Dass das bei aller Ernüchterung auch neue Ideen hervorrufen kann, zeigt der diesjährige Fokus des Festivals: Je eine künstlerische Darbietung aus Berlin wird mit einer Aufführung aus New York gepaart. Im Fall von Y-Otis wird es das Trio des aus Detroit stammenden Pianisten Craig Taborn sein. Alle Konzerte vom 5. bis 8. November können kostenfrei über Internet und Radio gestreamt und gehört werden.

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Sandsjö und seine Band haben im Sommer „Y-Otis 2“ veröffentlicht. Wie beim Erstlingswerk verbindet es sein zeitgenössisches, von modernen Techniken wie Multiphonics und Zirkularatmung geprägtes, aber gleichzeitig sehr loop-basiertes Saxofonspiel mit genreübergreifenden Soundcollagen, die sich an der computergeprägten Beat-Musik des 21. Jahrhunderts orientieren.

Wonky – wackelig – fließen die Instrumentaltracks von einer Klangtextur in die andere, evozieren hier melancholische Folkmelodien und dort das zurückhaltend groovende Schlagzeug im Stil einer Neo-Soul-Ballade. Anders als ihre Hip-Hop-Prototypen erweitern die Beats dabei das metrische Spektrum um schwindelerregend krumme Taktarten.

Wer gerade spielt, ist nicht klar auszumachen

Die Kompositionen als ganze erörtern und dekonstruieren dabei in ihrer klanglichen Schichtung die klassischen Formelemente des Jazz: Solo, Begleitung, Thema. All das existiert in der Musik nicht mehr. Es ist nicht immer klar auszumachen, wer gerade spielt.

Nicht zuletzt liegt das an der fluiden Machart: „Mit einer Handvoll Skizzen sind wir ins Studio gegangen und haben Material aufgenommen. Danach begann die zweite Phase“, beschreibt Sandsjö den Prozess, der die Musik von Y-Otis erst zum Leben erweckt.

„Post-Production“ nennt man diese Arbeit. Doch Sandsjö und sein musikalischer Partner – Bassist und Ko-Produzent Petter Eldh – nehmen sich größere Freiheiten als im akustisch geprägten Jazz. Einzelne Schnipsel des aufgenommenen Materials werden zu Samples verarbeitet, aus denen neue Loops und Patterns programmiert werden.

Y-Otis ist zugleich akustisch und elektronisch

Das neuarrangierte Material wird mit Overdubs und Effekten versehen. Y-Otis ist akustisch und elektronisch, das musikalisches Material speist sich aus dem Fundus der instrumentalen Virtuosität der Musiker wie aus den neuartigen Produktionsmethoden der Sampler und Computer, die seit den 90ern Einzug in die Popmusik gefunden haben.

Eldh meldet sich zu Wort. „Das Zerschnippeln, das Umarbeiten des Materials geht uns jetzt viel schneller von der Hand“, erzählt er. Stammten die Skizzen des ersten Albums noch von Sandsjö, ist der 37-jährige Bassist auf dem zweiten Album auch mit Kompositionen und Ideen omnipräsent. „Wir wissen jetzt, wie wir den Prozess angehen. Von Anfang an war der Zeitplan überschaubarer“, erzählt er. Im Dezember fanden die ersten Studiosessions statt, im Juli war das Album bereits fertig. „Petter bringt meine Ideen so zusammen, dass sie Sinn ergeben“, beschreibt Sandsjö die Rolle seines musikalischen Kompagnons.

Sandsjö kam nach Berlin wegen der Echtzeitmusik-Szene

Obwohl beide aus Göteborg stammen, sind sie erst in Berlin „musikalische beste Freunde“ geworden, wie Sandsjö sagt. Nach Berlin kam der 33-Jährige wegen der Echtzeitmusik-Szene und dem freien Zugang zum Jazz, der die Hauptstadt prägt. Das gelte nach wie vor: „Die verschiedenen Szenen sind jetzt noch stärker vernetzt. Junge Leute wie Ludwig Wandinger oder Felix Henkelhausen zeigen das in ihrer Musik.“

Passt Y-Otis mit seinem beat- und groove-lastigen Sound nicht besser nach London oder Los Angeles – Knotenpunkte dieser Musik? Sandsjö verneint: „Ich liebe es, mit Klischees zu arbeiten. Wenn ich will, dass etwas slick, glatt, klingt, dann mache ich es richtig slick. Diese rotzige Einstellung des Machens steht für mich für Berlin. In dieser Hinsicht ist unsere Musik ein Produkt dieser Stadt. Woanders hätte ich vermutlich das Gefühl, von dieser Beat-Szene beäugt zu werden. Ich wäre nicht so frei.“

Sandsjös Saxofon tritt als perkussive Soundquelle auf

Y-Otis 2 baut das klangliche Reservoir in dieser Hinsicht noch stärker aus als sein Vorgänger. Schien auf dem ersten Album noch stärker das Ensemblespiel der vier Musiker durch, wartet der Nachfolger mit einer noch konsequenteren Fragmentierung der musikalischen Stimmen und Skizzen auf.

Auf „Bobby“ legt sich zu Beginn ein dystopisch-beängstigender Groove, der aus sezierten und recycelten Vokalsamples besteht, über das stochernde Saxofon Sandsjös, das durch die betonten Klappengeräusche in erster Linie als perkussive Soundquelle in Erscheinung tritt, während die dabei geblasenen Töne nur im Hintergrund wahrzunehmen sind.

An anderen Stellen sind es hallige Klavierakkorde oder Synthesizer-Bleeps, die in den Vordergrund drängen und die Aufmerksamkeit der Zuhörenden auf sich ziehen – doch stets nur für einen Augenblick, bis sich die nächste Klangtextur, der nächste Bruch im Arrangement aufdrängt.

Von Jazz-Schulen hält Otis Sandsjö nicht viel

Ist das noch Jazz? Eine langweilige Frage, die Petter Eldh lieber so wendet: „Sind Jazz-Schulen nicht obsolet?“ Man müsse heute nicht mehr die gesamte Jazz-Tradition studieren, um in den verschiedene Jazz-Idiomen aufregende Musik zu machen, darin sind sich die Schweden einig.

„Die Zusammenarbeit mit Künstlern wie Jameszoo hat mir das gezeigt: Da kommen Ideen für das Arrangement von Tracks auf, die mir sonst niemals eingefallen wären“, sagt Eldh. Den Nährboden für eine möglichst vielseitige Beschäftigung mit dem Jazz ziehe die Stadt weiterhin aus ihrer vitalen Szene – und gerade nicht aus der institutionalisierten Jazz-Ausbildung.

Die Tracks sollen online stärker ineinander fließen

Szenenwechsel: Einige Stunden später stehen sich Sandsjö und Eldh in der Kreuzberger Emmauskirche gegenüber, zwischen ihnen die Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch. Speak Low heißt ihr Trio, das 2016 ein vielbeachtetes Album veröffentlicht hat. Sandsjös nicht enden wollende Figuren stapeln sich übereinander, drängen sich aber nicht vor Cadotschs kühles Timbre, das Folkanleihen evoziert.

Eldh ist, anders als bei Y-Otis, am Kontrabass zu hören. Auch diese Performance wird digital übertragen. Wie fühlt es sich an, ganz ohne Publikum? „Wir haben gerade zum ersten Mal so gespielt. Zwischen den Stücken klafft Leere, das merkt man. Nächste Woche werden wir wohl einige der Tracks ineinanderfließen lassen“, sagt Sandsjö.

Zum Trio stößt die Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch

Ganz so akustisch wie im Trio mit Cadotsch wird man Sandsjö und Eldh beim Jazzfest nicht erleben. Zu ihrem Set-Up auf der Bühne gehören elektronische Klangerzeuger und Sampler. Die Offenheit, an das musikalische Material heranzugehen, spielt auch bei der Aufgabe, die am Computer dekonstruierte Musik auf der Bühne wieder zusammensetzen, eine zentrale Rolle: „Das Live-Set ist auf jeden Fall Änderungen ausgesetzt. In erster Linie wollen wir den Sound öffnen, neue Wege finden. Wir spielen zum Beispiel über Loops“, beschreibt Sandsjö den Ansatz. Am Freitag kann man ab 22 Uhr zu Hause lauschen, wie das klingt.

[Die 57. Jazzfest-Ausgabe widemet sich dem transatlantischen Dialog und findet vom 5. bis 8. November nur online statt. Liveübertragungen bei Arte und der Website der Berliner Festspiele sowie den Websites der ARD-Hörfunkanstalten. Am 5.11., 19 Uhr, Bassist und Improvisationskünstler Joel Grip und Ensemble mit der Performance „Ap Lla: Ceremony of Two Moons“. 6.11., 16 Uhr Saxofonistin Lakecia Benjamin

aus New York und Lina Alleman’s Trio Ohrenschmaus. 7.11., 19 Uhr, Ingrid Laubrock & Kris Davis aus dem Silent Green und das Jim Black Trio aus New York. 8.11., 19 Uhr Beyond w/ Bernhardt feat. The Micronaut & Meuroer Mandolinenorchester.]

Ken Münster

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