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Verwirren, entwirren. Objekt der KIM-Keyboarderin Liz Kosack, im Hintergrund Laura Winkler und Max Andrzejewski.

© Jazzfest/Liz Kosack

Jazzfest Berlin 2019: Fun, Funk, Fungus

Das Berliner Jazzfest beginnt – das KIM Collective zeigt eine Pilzoper.

Von Gregor Dotzauer

Unter den mykologisch unerforschten Sporengewächsen ist der Glückspilz der bedeutendste. Im Gegensatz zu seinen zoophilen und geophilen Genossen verhält er sich eindeutig anthropophil.

Er vermehrt sich sexuell, wirkt psychoaktiv und lässt sich im freien Feld auf Anhieb erkennen. Wie sein Name verrät, ist er das Gegenteil von Killerpilzen wie dem Splanchnonema platani, der auch in Berlin sein Unwesen treibt und nicht nur die Platanen im Treptower Park mit einer Turbofäule namens Massaria-Krankheit befallen hat.

Auch mit Schwächeparasiten wie dem Cryptostroma corticale, der Zehlendorfer Ahornbäume mit der sogenannten Rußrinden-Krankheit infiziert, hat er so wenig zu tun wie die Lästlinge, wegen derer man den Hautarzt aufsucht.

Eine Unterart des Glückspilzes, die sporadisch im Stadtgebiet auftritt, hat anders als alle bisher bekannten Exemplare sogar musikalische Ambitionen. Locker im derzeit 14-köpfigen KIM Collective vereint, dessen Akronym für „Komponierte & Improvisierte Musik“ steht, hat sie sich von den Rändern der freien Szene ins Zentrum des Geschehens vorgearbeitet.

Fern des gemeinen weißen Kulturchampignons setzt diese Variante des Glückspilzes der Massenware eine höchst eigenwillige Geruchs- und Geschmacksnote aus Jazz, Pop, Krautrock, und Neuer Musik entgegen.

Wer von der Pilzhaftigkeit dieser Glückspilze bisher nicht wusste, kann sich spätestens zu diesem Berliner Jazzfest davon überzeugen. Mit einer multimedialen „Fungus Opera“ unter dem Titel „Mass of Hyphae“ feiert das KIM Collective am Sonntagabend mit geradezu liturgischem Anspruch das Rhizomatische der fein verästelten Hyphen, aus denen sich ihre Musik zusammensetzt.

Vorstufen im Foyer

Und schon an den beiden Abenden zuvor entsteht im Oberen Foyer des Hauses der Berliner Festspiele ein „Garden of Hyphae“: eine aus Vorstufen des Werks bestehende Licht- und Klanginstallation, die allmählich auf die Hauptbühne übergreifen soll.

Noch im letzten Jahr war KIM, wie es sich für unterirdische Gewächse gehört, nur im „Unterort“ zu finden: dem Kellerrund unter der großen Drehbühne, wo sie zu visuell und akustisch verfremdeten Signalen aus dem Erdgeschoss live improvisierten. Nun hat Nadin Deventer, die das Jazzfest zum zweiten Mal kuratiert, den Durchbruch eingeleitet.

Sieben Tage vor der Weltpremiere der Pilzoper, an einem grauen Sonntagnachmittag, zeichnen sich auf der Probebühne im dritten Stock allenfalls die Umrisse einiger Stücke ab. Von der szenischen Ausgestaltung, zu der Licht, Videos und die Masken der Synthesizer-Spielerin Liz Kosack gehören, lässt sich nicht einmal etwas ahnen.

A cappella wackelt es noch

Die beiden Schlagzeuger Max Andrzejewski und Max Santner spielen nach und nach um einzelne Schläge erweiterte Rhythmusmodule hin und her, die Raphael Meinhart auf seiner Marimba akzentuiert. Dan Peter Sundland fieselt auf seinem halbakustischen Bass Geräuschhaftes zusammen. Simon Kanzler, bisher vor allem Vibrafonist, schickt live prozessierte Sounds im 360-Grad-Modus durch die Lautsprecheranlage. Und Sängerin Laura Winkler dirigiert die versammelte Rumpftruppe durch einen noch ziemlich wackligen A-cappella-Chor: Nächste Woche, sagt sie, muss das aber auswendig sitzen!

2015, beim zweiten KIM-Fest im Neuköllner Prachtwerk, gab es mit Simon Kanzlers skurriler Hardcore Opera „Nodía Es“ schon einmal ein theatralisches Krachvergnügen, damals mit Schreddergitarre und Schlagzeugwut, irgendwo zwischen Death Metal und Frank Zappa. Jetzt aber, sagen Sängerin Dora Osterloh und Saxofonist Paul Berberich, gehe es auch kompositorisch um etwas Kollektives.

Alle Beteiligten haben jeweils ein Stück beigesteuert, das auf einem Leitmotiv beruht: einer Abfolge von sieben beim gemeinschaftlichen Singen improvisierten Tönen. Dazu kommen eigene Texte, ein Gedicht von Sylvia Plath, Mykologisches aus Wikipedia sowie jüngst beim KIM-Fest im Maschinenhaus der Kulturbrauerei aufgenommene Interviews mit Besuchern über Pilze und die Erneuerung von Leben.

Kollektive allerorten

Als KIM 2013 im Umfeld des Berliner Jazzinstituts gegründet wurde, war es nicht der erste Zusammenschluss seiner Art. Das Berliner Jazzkollektiv besteht seit 2007, das Kölner Kollektiv KLAENG seit 2009. Aber für die Generation der damals zum Teil noch unter 30-Jährigen war es die angemessene Organisationsform, ein idealistisches, nur von zeitweiliger Projektförderung zusammengehaltenes Miteinander von Freunden und Freundinnen, die ihren Weg ins Künstlerleben suchten.

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In sechs KIM-Jahren hat sich die Zusammensetzung leicht verändert: Mit dem amerikanischen Trompeter Brad Henkel und der australischen Gitarristin Julia Reidy ist die Internationalität gewachsen und die Zahl der Konzerte geschrumpft. Im Rixdorfer Salon Tippel, wo das KIM Collective mit diversen Teilensembles anfangs regelmäßig gastierte, hat sich mittlerweile ein Co-Workingspace eingenistet, andere Neuköllner Lokalitäten boten noch kürzer Quartier.

Die Vernetzung über die eigenen Kreise hinaus, wie sie das alljährliche KIM-Fest anstrebt, bildet aber nach wie vor einen wichtigen Antrieb. Paul Berberich sagt, er sei wohl nicht zuletzt deshalb von KIM berufen worden, weil er als Musiker mit seinem eigenen Trio Zur Schönen Aussicht – Genrebezeichnung: Postcontemporary Jazzbeats – wie als Veranstalter mit dem Kunstkollektiv Subwater Beats Erfahrung habe.

Neben Dora Osterloh, die unter anderem in der Impro-Noise-Band Kite singt, ist er das jüngste Mitglied des auf Geschlechtergerechtigkeit und Instrumentenvielfalt angelegten Kollektivs.

Eine Oper? Naja!

Auf einen stilistischen Nenner lassen sie sich ohnehin nicht bringen: Wer die Musikerinnen und Musiker in den einschlägigen Clubs zwischen Donau115 und Sowieso ganz ohne KIM-Fähnchen erlebt, der weiß, wie groß die Spannbreite ist, die sie schon in ihren eigenen Projekten entfalten. Erstaunlich aber auch, wie Gegensätzliches mitunter in Personalunion zusammenfindet, wenn sich die 12-saitige Fingerstyle-Virtuosin Julia Reidy mit der Ambient-Sound-Artistin trifft.

Bei diesem Jazzfest hält sie übrigens ihre eigene Arbeit davon ab, an der „Mass of Hyphae“ teilzunehmen: Mit dem Australian Art Orchestra präsentiert sie neben Stücken von Peter Knight am Freitag die Deutschlandpremiere einer Auftragskomposition.

Angesichts des zu erwartenden Kontrastreichtums sollte man es mit der Bezeichnung Oper nicht allzu genau nehmen. Was hier entsteht, kommt nicht von Claudio Monteverdi, sondern bestenfalls von Carla Bley und ihrer patchworkhaften Nummernrevue „Escalator Over the Hill“ her – wenn seither nicht auch schon ein halbes Jahrhundert vergangen wäre.

Wörtlich nehmen kann man jedoch Paul Berberichs Versprechen, dass es sich um eine Ohren, Sinne und den Hals verdrehende Erfahrung handeln wird: Auch hinter dem Rücken der Zuschauer, die rings um die mittig aufgestellte Bühne sitzen, soll einiges passieren. Explodiert da womöglich gerade ein Bovist?

[Vier Tage lang, vom heutigen Donnerstag an, lädt das Jazzfest Berlin ein, die Vielfalt einer Musik zu entdecken, die sich immer weniger definieren lässt. Zum Auftakt im Martin-Gropius-Bau gibt es die Deutschlandpremiere von „Sonic Genome“, einer sechsstündigen Klangperformance der Free-Jazz-Legende. Anthony Braxton mit fast 60 Musikern, überwiegend aus der Berliner Szene. Mit seiner „ZIM Music“ tritt er am Sonntag ein zweites Mal auf. Am Freitag stellt der Berliner g stellt der Berliner Schlagzeuger Christian Lillinger sein Projekt „Open Form for Society“ vor. In Late Night Labs sind interdisziplinäre Formationen zu hören. Mit The Young Mothers und James Brandon Lewis’ UnRuly Quintet machen zwei hiphopbeeinflusste Bands auf sich aufmerksam. Zentraler Veranstaltungsort ist das Haus der Berliner Festspiele, weitere Konzerte finden im A-Trane und dem Quasimodo statt. Die Konzerte werden von den Rundfunkanstalten der ARD und Deutschlandfunk Kultur aufgezeichnet und teils live gesendet. Der Eröffnungsabend wird von den Berliner Festspielen gestreamt, die Freitags- und Samstagsprogramme von Arte Concert übertragen. Restkarten an den Abendkassen. Infos: berlinerfestspiele.de.]

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