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Atomistische Klangereignisse. Yuko Oshima (links) und Hamid Drake im Haus der Berliner Festspiele.

© Camille Blake

Jazzfest Berlin 2018: Herzschlag des Universums

Afrofuturismus und andere Utopien: Das Berliner Jazzfest hat begonnen - unter anderem mit Nicole Mitchell und dem Black Earth Ensemble.

Von Gregor Dotzauer

Drunten, im Hades, in den Jazzfestbesucher sonst nie hinabsteigen, zeigt sich das Gedärm des Hauses der Berliner Festspiele unverhüllt. Im Kellerrund einer Drehbühne läuft es die Wände entlang, und tatsächlich wird hier in einer Installation des Berliner KIM Collective etwas von dem verdaut, was gerade zu ebener Erde stattfindet. Videomonitore übertragen farblich verfremdet den Betrieb im Foyer, und was er an Geräuschen produziert, wandert sofort in digitale Apparaturen, wo es gestaucht und gedehnt, vorwärts wie rückwärts eingelesen, wieder ausgespuckt wird.

In den Höhlungen ringsum sind Instrumente aufgebaut, die darauf warten, das elektronische Geschehen zu kommentieren, darunter zwei Schlagzeugsets und das Vibraphon von KIM-Initiator Simon Kanzler, einem Absolventen des Jazzinstituts. Nur jeweils 30 Gäste sind zugelassen, sich in dieser „Un(ter)welt“, wie das Projekt heißt, umzutun. Ein hinein tröpfelndes und wieder herausrieselndes Publikum im Daueraustausch. Willkommen zum Grand-Opening-Programm von Nadin Deventer, der ersten Kuratorin, seit die Jazztage 1964 von zwei Männern, Joachim-Ernst Berendt als künstlerischem Leiter und Ralf Schulte-Bahrenberg als Geschäftsführer, gegründet wurden.

Das halbe Jahrhundert, das mittlerweile vergangen ist, wirkt fern und nah zugleich. Der aus Kamerun stammende Eröffnungsredner Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der den Kunstraum SAVVY Contemporary Berlin leitet, lässt in einer Tour de Force die Black-Liberation-Rhetorik jener Zeit, wie sie der Dichter, Aktivist und Jazzschriftsteller LeRoi Jones alias Amiri Baraka pflegte, mit der jüngsten postkolonialen Identitätspolitik zusammenschießen. Von Neuem erklärt er Jazz zu einer Kunst des Protests und des Widerstands erklärt, der die Weißen den sozialen Akzent austreiben wollen. Eine damals berechtigte, heute aber in vielem überwundene Ansicht, die Gräben aufreißt, die Musiker beider Seiten weitgehend zugeschüttet haben.

Ruf nach einer neuen Utopie

Man muss sich in Bezug auf die Gleichberechtigung von Weiß und Schwarz in den USA keiner Illusion hingeben, um in Baraka eine problematische Figur zu erkennen, an die sich nicht einfach anknüpfen lässt. Von der Frauenverachtung über den Schwulenhass bis zum Antisemitismus hat er sich im Lauf seines Lebens an so ziemlich jedem Irrtum versucht, der geeignet war, seine Mission zu diskreditieren. Es ist, wie Ndikung es tat, auch wenig hilfreich, zu insinuieren, dass der geniale Bassklarinettist Eric Dolphy, der 1964 während einer Deutschlandtournee in einem Wilmersdorfer Krankenhaus an einer unerkannten Diabetes-Erkrankung starb, dem Rassismus deutscher Ärzte zum Opfer gefallen sei. Aber was beschwört man in düsteren Zeiten nicht alles, um ein musikalisch vermitteltes New Utopia auszurufen.

Bei der Flötistin Nicole Mitchell und ihrem Black Earth Ensemble liegt das Utopia im Jahr 2099. Ihr für das Chicagoer Museum of Contemporary Art entstandene Auftragswerk „Mandorla Awakening II: Emerging Worlds“, das auf einer von ihr selbst geschriebenen Science-Fiction- Story über eine Insel beruht, auf der Technologie und Natur versöhnt sind, wird gerne dem Afrofuturismus zugeschlagen. Doch die Suite ist nicht nur auf die Konflikte der Gegenwart aus, sie sprengt auch jede afrikanische Verortung.

Mitchell verarbeitet vor allem japanische Elemente. Neben ihre Querflöte tritt Kojiro Umezakis Shakuhachi, die traditionelle Bambusflöte, und Kontrabassist Tatsu Aoki traktiert neben der Shamisen, einer Langhalslaute, auch die mit weit ausholenden Bewegungen zu schlagende große Röhrentrommel Taiko. Das ist Weltmusik im besten, alles rein Exotische hinter sich lassenden Sinn: elegant komponiert, farbig instrumentiert, von JoVia Armstrong mit Becken und Cá leichthändig zum polyrhythmischen Schweben gebracht.

Auf den Spuren von Amiri Baraka

Insbesondere Sänger und Spoken- Word-Artist Avery R. Young redet sich auf den Spuren von Amiri Baraka in Rage: „Our blood spilling in Baltimore, in Ferguson, Chicago, and Nepal / What do we do, y’all? / I want to pick up my blade / But then again there’s gotta be another way.“ Am Ende gerät Young, der vom bellenden Growl wie von Soulvater James Brown bis zum schmerzhaften Blues viele Schattierungen beherrscht, derart ins Rasen, dass er von seiner Bandchefin richtiggehend beruhigt werden muss. Vom Free Jazz der ursprünglichen Chicagoer Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM), deren Präsidentin Mitchell zwischen 2009 und 2011 war, könnte das nicht weiter entfernt und trägt dennoch den Aufbruchsgeist der Bewegung ins 21. Jahrhundert. Der frühe Höhepunkt des Abends.

Eine weitere amerikanisch-afrikanisch- japanische Begegnung bieten die Schlagzeuger Hamid Drake und Yuko Oshima: er ein Veteran freien Spiels und Virtuose der Rahmentrommel, sie eine junge Perkussionistin, die ihr Arbeitsfeld in ihrer Wahlheimat Frankreich gefunden hat. Aus oftmals atomistischen Klangereignissen erschaffen sie mit einem Rascheln hier und einem mächtigen Rumms mit nachprasselnden Trommelkaskaden dort eine auratische Welt, die nur selten in länger durchgehaltene Grooves mündet. Ein Mikrobild des „heartbeat of the universe“, das Drake singend und deklamierend beschwört.

Ansonsten braucht es bei insgesamt zehn Auftritten eine Simultankompetenz, die auch den Gutwilligsten überfordert. Während Drake und Oshima noch auf der unbestuhlten Nebenbühne trommeln, beendet im oberen Foyer die Gitarristin Mary Halvorson, diesjähriger Artist-in-Residence, ihr Set mit dem Thumbscrew-Trio. In der Kassenhalle schmiedet das Schweizer Trio Heinz Herbert mit dem Wahlberliner Drummer Moritz Baumgärtner aus elektronischen Splittern eine skulpturale Musik. Derweil improvisiert im oberen Foyer der 28-jährige Pianist Elias Stemeseder, der nach seinem Studium in Berlin, nun in New York lebt, ganz allein abstrakte, unruhig über die Tastatur zitternde Texturen.

Zu später Stunde kann man ihn, Mitchell und Drake noch einmal mit dem durch Instrumentalisten aus der Berliner Echzeitmusikszene auf ingesamt15 Köpfe aufgestockten Exploding Star Orchesters unter der Leitung von Trompeter Rob Mazurek erleben. Bei der Uraufführung des Auftragswerks „Galactic Parables Vol. II“ treffen Chicago und Berlin in großer Klanggeste und fieseligem Kleinklein aufeinander, ohne die Dichte des Black Earth Ensemble zu erreichen. Dem allgemeinen Wohlwollen tut es keinen Abbruch. Dieses atmosphärisch reiche Wandelkonzert ist ein Versprechen für die kommenden Tage.

noch bis 4. November, Programm unter www.berlinerfestspiele.de

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