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Jazz: Im Reich der Tiefseetöne

Und das soll Jazz sein? Ein Treffen mit dem Pianisten Michael Wollny - aus Anlass seines neuen Albums mit dem Trio „em“.

Von Gregor Dotzauer

Wie unter seinen Händen aus einem Geräusch ein Ton wächst, aus dem Ton eine spröde Melodie, aus der Melodie die Andeutung eines Akkords, aus dem Akkord eine Folge sanfter Wanderdünen, bis über einem schroffen Abgrund ein alles verschlingender Sturm aufzieht und das Wetter umschlägt – das muss man wenigstens einmal im Konzert erlebt haben. Denn Michael Wollnys Klangräume leben auch von den Druck- und Temperaturverhältnissen seiner Auftrittsorte. Was aus den Eingeweiden seines Flügels in kristallenen Wolken herausschwebt und später womöglich in schweren Clustern abregnet, entscheiden die Schwingungen und Strömungen, die sich vor Publikum ergeben, jedes Mal aufs Neue. Wenn man also live erlebt haben muss, wie Wollny etwas aus nichts entstehen lässt, dann nicht zuletzt deshalb, weil man selbst ein Teil davon ist.

So spinnenfingrig und nervös er dabei manchmal über die Klaviatur huscht, zählt bei ihm das spontane Klangereignis mehr als die Perfektion des einzelnen Tons. Wollny, 1978 in Schweinfurt geboren und der gefeiertste deutsche Jazzpianist seiner Generation, liebt das Skelettierte und Skizzenhafte, die Spannung weit auseinanderliegender Dissonanzen, aber auch deren strahlende Auflösung.

Die erste Hälfte seiner Soloabende besteht heute immer aus freien Improvisationen. Das Lampenfieber vor notengetreu aufzuführenden Stücken schreckt ihn mehr als die Offenheit des Geschehens. „Gerade in der Anfangsunklarheit muss die Musik die Oberhand gewinnen“, sagt Wollny bei einem Gespräch im Berliner Café Savigny. „Ich muss erst etwas passieren lassen, und es ist nicht schlimm, wenn nicht gleich jedes Motiv zum Ziel führt. Ich muss Dinge ausprobieren, zurückgehen, etwas Neues versuchen, einfach weiterspielen. Ich muss auf der Bühne auch richtig atmen. Man hat die Verantwortung, den ganzen Raum mit seiner Idee zu füllen. Da darf man nicht zu sehr in die Tastatur hineindenken. Man muss den Raum atmen. Mir geht es da wie David Lynch, der sagt, Ideen hat man beim Tiefseetauchen, nicht beim Wasserskifahren.“

Als Teil des Nils-Landgren-Quartetts oder des Trios „em“ mit Schlagzeuger Eric Schaefer und Bassistin Eva Kruse kann er zwar auch schwelgen, swingen und grooven. Doch Wollnys Imaginationskraft zeigt sich vor allem in den Dunkelräumen seiner einsameren Unternehmungen. In der melancholischen Kargheit der „Hexentanz“-Suite, bei der er ganz mit sich allein ist. In den spieldosenhaft funkelnden Klangobjekten der „Wunderkammer“, deren Automatenseele er mit seiner Celesta und dem Cembalo von Tamar Halperin menschliches Leben einhaucht. Und vor allem in den Duoaufnahmen mit Heinz Sauer, dem fast fünfzig Jahre älteren Tenorsaxofonisten, der Wollnys zerbrechliche Schemen mit der Dramatik körniger Einzeltöne auflädt.

Dabei gibt er sich im selben Maß Regeln, wie er sie zu überwinden versucht. Denn Freiheit ist nie absolut: „Je mehr bestimmte Dinge festgelegt sind, um so größer sind die Möglichkeiten in den Ritzen dazwischen.“

Von seinem Würzburger Lehrer Chris Beier erbte er die Lust am Jonglieren mit musikalischen Parametern – zumal Wollny anfangs auch drei Semester Mathematik studierte. Noch als er seine Diplomarbeit über Joachim Kühn schrieb, den 34 Jahre älteren Pianisten, mit dem er heute gleichfalls im Duo auftritt, forschte er nach einer Formel, mit der er Kühns Einfallsreichtum auf die Spur zu kommen hoffte: „Wenn A, dann B. Wenn Tonvorrat X, dann Permutation Y. Aber dann dachte ich immer wieder: Ist doch alles Quatsch.“ Zugleich weiß er, dass sich jede Musik statistisch fassen lässt: „Es gibt nur so und so viele Möglichkeiten, die Bestandteile einer bestimmten Tonfolge zu vertauschen. Worin unterscheidet sich also das vorgefertigte Lick von der Augenblickserfindung? Was ist ein Personalstil? Vielleicht folgen wir einem Programm, das uns nur vorgaukelt, dass eine musikalische Idee aus dem Moment heraus entstanden ist.“

Mit dem Begriff Jazz wird man dieser Musik längst nicht mehr gerecht – obwohl ihr allen stilistischen Himmelsrichtungen entstammendes Vokabular in einem energetischen Atem zusammenfließt, den selbst die unorthodoxeste Musik im Zeichen des großen E verweigert. „Ich höre alles, was mich interessiert“, sagt Wollny, „in den letzten Jahren unter anderem jede Menge Pulp. Musikalisch ist das vielleicht nicht weltbewegend, aber die Texte sind unglaublich. Das findet sich auf meiner Playlist gleichberechtigt neben Morton Feldman, oder sagen wir Franz Schubert, dazu die letzte em-Session.“

Die Welten zwischen Club und Konzertsaal sind für ihn durchlässig geworden. „Von György Ligeti gibt es eine Etüde, ,Touches bloquées’, in der die eine Hand Tasten blockiert, um die die jeweils andere herumspielen muss. Durch die entstehenden Pausen ergeben sich ungeheuer komplexe Mikrorhythmen.“ Das, findet er, solle man ruhig zusammenhören mit den Elektroekstasen, die der Brite Tom Jenkinson alias Squarepusher in seinem Hochgeschwindigkeits-Drum ’n’ Bass inszeniert: „Einerseits ist das Musik zum Abtanzen, andererseits hat es den Charakter einer Kunstinstallation.“

In der Tat gibt es heute wohl vor allem unter Musikern wie Wollnys Pianisten- und Labelkollege Vijay Iyer Ansätze, beispielsweise indische Ragas und Jazz jenseits aller Crossover-Krämpfe in eine organische Sprache zu überführen. Auf andere Weise arbeitete daran schon Ligeti, als er in den polyrhythmischen Chören der zentralafrikanischen Aka-Pygmäen Strukturen seiner Kompositionen erkannte. Auch das Trio em, mit dem er seit 2004 drei Studioalben und eine intensive Liveaufnahme veröffentlicht hat, ist ein Versuch, eine solche Sprache zu entwickeln – wenngleich die Entstehung der vierten Studioproduktion „Wasted & Wanted“ mehr denn je Stückwerk war.

Zwischen Berlin, wo Eric Schaefer und Eva Kruse leben, und Frankfurt am Main, wohin Wollny der Liebe wegen gezogen ist, flogen Mails mit teils reichlich abstrakten Skizzen hin und her, und Schaefer erhielt zum ersten Mal auf einer E-Drum eingespielte Klangnotizen, die er zu vollständigen Schlagzeugparts entwickelte. Entstanden ist das bisher zugänglichste em-Album – ohne die kollektiven Improvisationsschollen, die sonst zwischen den Kompositionen trieben, doch mit der vertrauten Entschiedenheit, die heterogensten Themen zu verarbeiten. Gustav Mahlers Trauermarsch aus der 5. Symphonie wird hier mit der gleichen Ernsthaftigkeit interpretiert wie Kraftwerks „Mode“ oder Schuberts Schwanengesang „Ihr Bild“. Daneben finden sich Originalkompositionen, aus denen Kruses „Metall“, ein aus einer tänzelnden Ostinatofigur geborenes massives Stück Piano-Rock herausragt, und Schaefers in luftigen Breakbeatfarben flirrendes „Cembalomanifeszt“ mit Wollny am Spinett.

„Diese Platte“, sagt er, „hat sich von Anfang an eher an Pop und die Achtziger angelehnt als an krumme Takte und freies Improvisieren. Wir hatten knappe Formen im Sinn.“ Und so beginnt es mit einem Kracher im eisernen Viervierteltakt, der The Bad Plus oder dem Neil Cowley Trio Ehre machen würde, wenn seine Melodie, wie Wollny sagt, „nicht hier und da komische Kurven machen würde. ,Wasted & Wanted’ hat einen Backbeat voll auf die Nuss, mit einem Hauch Verzerrung und einer riesigen Bassdrum, die Eric sonst nie spielt. Im Studio hieß es einfach: Alle Regler auf zwölf.“

Was das Maß der musikalischen Verschworenheit angeht, kann zumindest unter den deutschen Klaviertrios mit em derzeit nur das von Pablo Held mithalten – gerade weil es mit Drummer Jonas Burgwinkel und Bassist Robert Landfermann in seiner romantischen Verve am offeneren, prozesshafteren Ende des zusehends auf überschaubare Formen bedachten em-Konzepts zu Hause ist.

Ein Trauerspiel nur, dass die Erfahrung solchen Glücks immer weniger Leute teilen. Heerscharen junger Jazzer, die Jahr für Jahr, hervorragend ausgebildet, die Hochschulen verlassen, treffen auf ein schrumpfendes, in die Jahre gekommenes Publikum. Wollny ahnt, woher diese Entwicklung kommt: „Entweder kann man diese Musik nicht ertragen, oder man will Teil von ihr sein.“

Deswegen glaubt er, dass es viel mehr gedankliche und didaktische Auseinandersetzung mit ihr braucht als bisher – übrigens auch unter den vielen sich über ihre prekäre Situation beschwerenden Musikern: „Mir zeigt die Art, wie man Relevanz einfordert, indem man das ungeheuer Junge und Eigenständige des Jazz betont, dass man eben damit hadert. Tatsächlich ist nicht alles, was dem Jazz zugeordnet wird, immer am Puls der Zeit – wie es auch im Theater die Tendenz gibt, sich selbst wahnsinnig interessant zu finden, aber das Publikum nicht mehr zu erreichen.“ Die neue Platte von em muss kein Welterfolg werden, um diese Sorge zu zerstreuen: It’s wanted. Not wasted.

Wasted & Wanted (ACT) erscheint am 24.2.

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