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Vorliebe für sinistre Zwischenwelten. Der Pianist Michael Wollny.

© ACT/Grosse Geldermann

Jazz: Das schwarze Rauschen

Wo hört der Jazz auf, wo fängt die Klassik an? Kleiner Versuch über Michael Wollnys neues Album „Weltentraum“.

Von Gregor Dotzauer

Wo sich Jazz und klassische Musik berühren, knirscht es längst nicht mehr. Das auf flott Getrimmte, das der Pianist Jacques Loussier mit seinem Trio einem Publikum bot, das Johann Sebastian Bach allein noch nicht swingend genug fand, ist ebenso aus der Zeit gefallen wie das Gezwungene, mit der etwa Bernd Alois Zimmermann in seinem collagewütigen Trompetenkonzert „Nobody knows de trouble I see“ der Neuen Musik 1954 Synkopenbeine machte. Das schreckliche Motto „Klassik, leicht gemacht“, unter dem die Rundfunkanstalten unerzogenen Hörern einst den vermeintlich bitteren Ernst der Sache versüßen wollten, hat sich ins private Formatradio verflüchtigt. Und der Jazz umarmt mittlerweile die gesamte westliche Musikgeschichte, jede noch so exotische Folklore – und den Pop gleich mit dazu. Keine hybride Form, die man noch erfinden müsste. Die wechselseitige Aufgeschlossenheit, so scheint es, ist unendlich. Wie lassen sich die Gattungen da überhaupt unterscheiden?

Das herkömmliche Kriterium lautet, dass es sich im einen Fall um überwiegend komponierte und im anderen um überwiegend improvisierte Musik handelt. Das grobe Missverständnis, das sich daraus herleitet, besteht allerdings darin, klassische Musik als etwas bloß Reproduziertes zu betrachten, wohingegen Jazz etwas originär Schöpferisches sei. Der Solist eines Mozart’schen Klavierkonzertes ist indes nicht weniger auf die Gunst der Stunde angewiesen als der Saxofonist, der sein Solo über ein Standard spielt. Die Aktualisierung und Verlebendigung eines eingelernten Vokabulars ist hier wie dort das Entscheidende – und kann natürlich auch nur abgespult werden.

Der entscheidende Unterschied liegt in der Herangehensweise. Der Jazz hat ein anderes Verhältnis zur Zeit als die klassische Musik, Linien schwingen freier ein und aus. Der englische Ethnologe und Kreativitätsforscher Tim Ingold hält es mit Begriffen des Musikwissenschaftlers Nicholas Cook, um dies zu beschreiben. Klassische Musik gehe „zentripetal“ vor, Jazz im Wesentlichen „zentrifugal“. Der klassische Musiker versucht, einen Notentext so genau wie nur möglich aufzuführen, der Jazzer versucht eher, den Moment zu ergreifen, der ihn aus dem streng Definierten hinausträgt.

Michael Wollny, mit 33 Jahren der vielseitigste und innovativste deutsche Jazzpianist seiner Generation, hat sich dem Zentrifugalen verschrieben: in den frei improvisierten Kontexten, in denen er gelegentlich auftritt, wie in den völlig durchstrukturierten Stücken seines Trios „em“. Mit ihm spielte er zuletzt das rhythmisch packende, geradezu rockverliebte Album „Wasted & Wanted“ ein. Danach ging Bassistin Eva Kruse in die zweite Babypause. So hat er sich nun mit dem Amerikaner Tim Lefebvre eingelassen, in Gestalt von Drummer Eric Schaefer aber das Kraftzentrum der alten Band behalten.

„Weltentraum“ heißt das neue Album des als Michael Wollny Trio firmierenden Ensembles, und im dämmrigen Dazwischen von Schlaf, Nacht und Traum ist es thematisch und atmosphärisch auch angesiedelt. Aus der überzeugenden Geschlossenheit seiner 14 Stücke fällt nur die Live-Aufnahme von Pinks „God is a DJ“ mit Theo Bleckmann als Gastsänger heraus. Das Repertoire besteht zum größten Teil aus Liedbearbeitungen: von Guillaume de Machauts bald 700 Jahre altem „Lasse!“ bis zu Wolfgang Rihms „Hochrot“, dem Auftakt zu einem Zyklus für Sopran und Klavier nach Gedichten der Karoline von Günderode.

Alban Bergs „Nacht“ stammt aus den „Sieben frühen Liedern“, Edgar Varèses Verlaine-Vertonung „Un grand sommeil noir“ ist die einzige überlieferte Komposition aus seiner präavantgardistischen Frühzeit. Dazu kommen Friedrich Nietzsches „Fragment an sich“, ein schräger Blues von Peter Ivers, der in David Lynchs Film „Eraserhead“ zu hören war, eine zauberhafte Version des Titelsongs von Charlie Kaufmans Tragikomödie „Syncdoche, New York“ sowie ein Cover von „Be Free, a Way“ der Flaming Lips.

Die meisten Stücke leben programmgemäß von einer stillen, balladesken Innigkeit. Sie sind bei allem Reiz aber nicht das, was man von einem Jazz erwarten dürfte, der die Idee eines neuen dritten Wegs vorantreibt – und zwar, weil es ebendies war, wozu sich Michael Wollny in den letzten Jahren berufen zu fühlen schien. Gemessen an den Duoaufnahmen mit dem fast fünfzig Jahre älteren Tenorsaxofonisten Heinz Sauer, die Höhepunkte des zeitgenössischen Kammerjazz sind, ist „Weltentraum“ erschreckend konservativ.

Wollnys Versionen geben, was den Klavierpart betrifft, weitgehend notengetreu die ursprünglichen Kompositionen wieder – mit minimalen improvisatorischen Ausbrüchen. Eingehüllt in Eric Schaefers perkussive Wolken und unterlegt mit Tim Lefebvres wuchtigem Bass, sind sie verjazztes Repertoire aus fremden Gefilden – nur dass statt Jacques Loussiers perlendem Play Bach hier ein sinister schwebendes Play Hindemith („Rufe in der horchenden Nacht“) auf dem Programm steht. Es ist Ausstattungsware auf höchstem Niveau, ohne das Bemühen, sich das Material anders anzueignen. Keine der bewährten Strategien von Reharmonisierung, Tempo-, Rhythmus- und Charakterwechsel zieht hier. Von mehr oder weniger liebevollen Lesarten, die gegen den Buchstaben, wenn auch nicht unbedingt gegen den Geist eines Stückes vorgehen – keine Spur. Frappierend ist höchstens, dass man die Stücke ohne nähere Informationen durchaus für Wollny-Kompositionen halten könnte: Man hört, woher er wichtige Anregungen bezieht.

Wie viel weiter aber war er selbst schon, und welchen Zugriff auf Gustav Mahler, der gleichfalls zitiert wird und dem „Weltentraum“ das Motto spendiert hat, bewies etwa der amerikanische Pianist Uri Caine. Zugleich muss man zugeben, dass Wollnys Label ACT die Vermählung von Jazz und Klassik schon schlechter betrieben hat. Es knirscht zwar nicht, wenn Jeanette Köhn und der schwedische Radiochor mit „New Eyes On Baroque“ starren, aber es flutscht ärgerlich widerstandslos – gerade recht für Klassik Radio. Geschmackvoller schon Posaunist Christian Muthspiels Verneigung vor John Dowland oder Flavio Boltros strahlend trompetete Bearbeitungen italienischer Opernarien. Voll spielerischer Verwandlungslust steckt auch Wagners „Parsifal“, den Kontrabassist Dieter Ilg unlängst im Klaviertrio neu erstehen ließ.

Es kann also nicht um Reinheitsgebote gehen, aber um eine selbstzufriedene Hybridkultur, die sich mitunter im rein kombinatorischen Crossover erschöpft – Verwässerung der zeitgenössischen Art. Das radikalste ACT-Projekt in diesem Bereich hat übrigens Wollnys Schlagzeuger, der wunderbare Eric Schaefer, vorgelegt. Auf „Who is afraid of Richard W?“ packt er den Bayreuther Meister mit heulender Orgel am psychedelischen Wickel.

Michael Wollny Trio: Weltentraum (ACT Records)

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