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Die Shibatas (Sakura Ando als Mutter, links, Lily Franky als Vater) leben auf engstem Raum und kümmern sich auch noch um die fünfjährige Yuri.

© Wildbunch

Japanischer Film "Shoplifters": Die Vergessenen

Was macht eine Familie aus? Hirokazu Kore-edas bewegende Erzählung „Shoplifters“ über Menschen am Rand der japanischen Gesellschaft.

Was ist Familie? Wenn man sich beim Abendessen erzählt, was so los war am Tag. Wenn man nach Herzenslust rülpst, weil die Limonade so prickelt. Wenn man sich streitet und sich wieder verträgt. Und einen Schneemann baut, kaum dass es schneit.

So gesehen, sind die Shibatas eine ganz normale Familie. Wenn auch auf engem Raum, in einer vollgestopften Hütte, in der gerade so viele Tatatami-Matten Platz finden, wie Vater, Mutter, Großmutter, Tochter und Sohn zum Schlafen brauchen. Oma Hatsue (Kilin Kiki) trinkt gern ein Bierchen am Abend, sie ist sehr alt, aber hellwach im Kopf. „Ist dir was Unangenehmes passiert, deine Füße sind kälter als sonst?“, will sie von der Enkelin Aki wissen. Manchmal schimpfen die anderen mit Hatsue, weil überall ihre Fußnägel herumliegen. Es ist tatsächlich sehr eng in dem Flachbau hinter dem Wellblechtor, mit schmalen Durchgängen, verstellten Blicken, düsteren Winkeln - man kommt kaum aneinander vorbei. Die Kamera bewegt sich oft auf Tatami-Höhe.

Die Shibatas haben es nicht leicht. Sie gehören zu denen in Japan, die durchs soziale Raster fallen. Die Gelegenheitsjobs von Vater Osamu (Lily Franky) auf dem Bau, die Arbeit von Mutter Nobuyo (Sakura Ando) in der Großwäscherei, es reicht vorne und hinten nicht. Hauptsächlich leben sie von Omas Rente. Aki verdient in einer Peepshow etwas dazu, und Osamu sorgt als Ladendieb für etwas Essen auf dem Tisch, zusammen mit dem kleinen Shota, dem Kairi Jyo die Anmutung eines einsamen Kriegers verleiht.

Vater und Sohn als eingespieltes Team, so fängt es an, im Supermarkt. So heißt auch der Film, „Shoplifters – Familienbande“. Der eine lenkt ab, der andere stopft sich die Taschen voll. Die zwei verständigen sich wortlos, mit Blicken, Gesten, kleinen Ritualen. Auf dem Nachhauseweg entdecken sie die fünfjährige Yuri, frierend, ausgesperrt auf einem Balkon. Sie nehmen das Kind mit, es braucht eine warme Mahlzeit, jemanden, der sich kümmert. Yuri hat Brandwunden am Arm, blaue Flecken überall. Bald gehört sie dazu, wird angelernt für die Diebeszüge. Es ist kein Diebstahl, sagt der Vater, die Sachen im Geschäft gehören ja noch keinem. Es ist auch keine Entführung, beteuern die Shibatas einander, denn sie verlangen von niemandem Lösegeld.

Regisseur Kore-eda erzählt von Familien, von Menschen in Not

Regisseur Hirokazu Kore-eda ist ein Spezialist für Familiengeschichten. Für Familien, die nicht der bürgerlichen japanischen Ordnung gehorchen, für die Vernachlässigten, Vergessenen, Prekären in einer sich zunehmend zwischen Reich und Arm spaltenden Gesellschaft. Für Menschen in Not. In „Nobody Knows“ (2004) erzählte er, nach einer wahren Geschichte, von vier kleinen Kindern, die von ihrer Mutter im Stich gelassen werden und versuchen, sich selbst zu versorgen. In „Like Father, Like Son“ (2013) ging es um die Erschütterung der Eltern-Kind-Liebe, als sich herausstellt, dass der Sohn in der Geburtsklinik vertauscht worden war. In „Unsere kleine Schwester“ (2015) nehmen drei Mädchen ihre Halbschwester auf, von der sie bis zum Tod des Vaters nichts wussten.

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Was macht eine Familie zur Familie? Die leibliche Verwandtschaft oder eine Fürsorge, die sich um Blutsbande nicht weiter schert?

Hirokazu Kore-eda, 56, der für „Shoplifters“ in Cannes die Goldene Palme gewann, hört es nicht sonderlich gern, wenn man sein Œuvre mit dem des japanischen Familienfilm-Meisters Yasujiro Ozu vergleicht. Er sieht sich lieber in der Tradition des sozialrealistischen Kinos eines Ken Loach, schätzt dessen Arbeiter-Erzählungen „Raining Stones“ oder „Ladybird, Ladybird“. Wegen der fantastischen Art, wie Loach „Menschen mit ihrer Verletzbarkeit und ihren Torheiten porträtiert“, wie er einmal im Tagesspiegel-Interview sagte.

"Shoplifters" ist auch ein Film über Armut, über die Randständigen

Auch Kore-eda richtet das Augenmerk auf die Verletzlichkeit seiner Protagonisten, auf die kleinen Selbsttäuschungen, etwa wenn Aki sich in einen Kunden „verliebt“ und mit ihm kuschelt, im "Talk Room" des Bordells. Aber Kore-eda weckt auch Respekt vor der Überlebensstärke der Shibatas, ihrem Humor, ihrer Würde unter würdelosen Bedingungen. Ja, die Familie stiehlt, sie wohnt illegal in dem Häuschen und sie verbindet nur eine Wahlverwandtschaft, wie sich allmählich herausstellt. Trotzdem möchte man auf der Stelle auch eine Shibata werden, so aufmerksam und solidarisch, wie die Familienmitglieder einander zugewandt sind, so heiter, wie die Eltern nach langer Zeit wieder Sex miteinander haben, so schlagfertig, wie die Großmutter dem Sozialarbeiter auf den Kopf zusagt, dass er sie ins Heim stecken will, um die Hütte für gutes Geld zu verscherbeln. „Man hat sie weggeworfen, ich habe sie gefunden“, sagt Mutter Nobuyo einmal über Hatsue.

Leben von der Rente verstorbener Eltern - das gab es oft in Japan

Die sozialen Missstände in Japan prangert Kore-eda wie nebenbei an, etwa als Noboyu und ihre Arbeitskollegin selber entscheiden müssen, wer von beiden entlassen wird. Etliche japanische Familien leben in Zeiten der Rezession von den Renten der längst verstorbenen Eltern. Der Sozialbetrug machte Schlagzeilen – das war der Ausgangspunkt seines Drehbuchs.

Wobei „Shoplifters“ die Armut nicht pittoresk überhöht. Die subtile, suggestive, immer achtsame Kamera von Ryuto Kondo glotzt nicht romantisch, sie wahrt die Balance zwischen Empathie und Distanz. Ebenso die Filmmusik, die dem Geschehen eine kontrapunktisch leichte Note verleiht. Bis zum Ausflug ans Meer, einem kleinen Glück in billigen Badeklamotten und Unterwäsche.

Ein barmherziger Film, möchte man beinahe sagen

Für die Shibatas ist es der letzte lichte Moment. Ihr Zusammenhalt erweist sich als unhaltbares Provisorium, die staatliche Ordnung verlangt ihren Tribut. Und auch die Sehnsucht von Shota, so jung nicht schon Versorger sein zu müssen, sondern zur Schule zu dürfen. Er hat von diesem Buch gehört, „Swimmy“, in dem viele kleine Fische sich ins Meer hinauswagen, indem sie gemeinsam einen großen Fisch formen. Ein Bilderbuch von Leo Lionni als Leseanreiz in einem japanischen Film, schönes Detail.

Geheimnisse und Verzweiflungen kommen zutage, ein Verrat wird begangen. Die Shibatas werden abgeholt, verhört, die Bilder werden noch düsterer – und doch zerbricht diese Familie nicht.

Am Ende kommt die Kamera den Gesichtern ganz nahe. Jede Seelenregung zeichnet sich darauf ab, sie leuchten im Dunkeln. Barmherzigkeit, das in diesen Tagen so oft gebrauchte Wort fällt einem ein. Einen schöneren Weihnachtsfilm gab es lange nicht.

In 10 Berliner Kinos. OmU: fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe, IL Kino, Kino in der Kulturbrauerei, Neues Off, Wolf

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