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Expressiv, aggressiv. In der Serie „Attack on Titan“ verschwimmen die Grenzen von Gut und Böse.

© Abbildung: Hajime Isayama, Kodansha/„Attack on Titan“ Production Committee

Japanische Animes: Das Eigene ist das Fremde

In der Mythen-Schleuder: Was japanische Animes über unsere Gegenwart erzählen – und warum sich die Serien immer größerer Beliebtheit erfreuen.

Die letzten Überlebenden der Menschheit haben sich in einem Gebiet verschanzt, das gerade mal doppelt so groß ist wie Deutschland. Drei Mauerringe schützen die Siedlungen; das Zentrum gehört den Privilegierten. Draußen lauern die „Titanen“, die gleich bei ihrem ersten Auftritt die Mutter des Helden auffressen. Als ein Teil der äußeren Mauer fällt, kommt es zu einer Fluchtwelle – es wird eng im Land. Die Hoffnung ruht auf einer jugendlichen Grenztruppe, die von einem sehr schneidigen, sehr blonden Offizier angeführt wird.

Wer hat diese Belagerungsfantasie bloß ausgeheckt? Sie könnte angesichts unserer Migrationsdebatten aus der Mitte Europas kommen. Tatsächlich handelt es sich um ein Szenario des japanischen Zeichners Hajime Isayama. Seine „Attack on Titan“-Mangas haben sich inzwischen mehr als 70 Millionen Mal verkauft – einer der stärksten Titel nach der Jahrtausendwende. Die gleichnamige Anime-Fernsehserie war 2013 ein Instant-Hit. Und nicht nur in Japan, auch in Deutschland fiebert eine Fanszene dem Start der dritten Staffel entgegen. Am Sonntag, den 22. Juli, ist es so weit.

Animes sind das populärste Bewegtbildformat in Japan und entsprechend ausdifferenziert, längst erfreuen sie sich weltweiter Beliebtheit. Wie Manga-Comics, auf denen die meisten Animes basieren, bedienen sie alle Altersgruppen und jedes Bedürfnis, Es gibt Science-Fiction und Highschoolkomödien, Action und Alltagsdramen, Pokémons und Pixelpornos in unterschiedlichsten Zeichenstilen und mit einer Freude am Schrägen, Riskanten oder Chaotischen, die den Mainstream der Trickfilmproduktion im Westen blass aussehen lässt.

Mythen aus Bibel und Superheldencomics

Zwischen den von der Kritik geschätzten Animefilmen in der familienfreundlichen Tradition von Hayao Miyazaki und einer auf ältere Fans zielenden Serie wie „Attack on Titan“ scheinen tatsächlich Welten zu liegen. Zum einen wegen der Kriegs- und Horrorelemente, aber auch visuell: „Attack on Titan“ hat einen atemberaubend expressiven, gefährlichen Look – Otto Dix trifft „The Walking Dead“. Durch die von Anime-Liebhabern oft geschmähten Computeranimationen wird dieser Look nicht ruiniert, sondern zusätzlich dynamisiert. Hinzu kommt ein Hang zum belasteten deutschen Kulturgut, vom „Meistersinger“-Dekor bis zu Reizwörtern wie „Sieg“ und „Gloria“ in den Titelsongs.

Wo hier die Front verläuft und wer wen terrorisiert, das fragt man sich allerdings spätestens in dem Moment, in dem sich der Held Eren Jäger selbst in einen Titanen verwandelt. Seine Menschlichkeit verliert er dabei nicht. Der Junge steckt im Inneren eines Titanenkörpers, wie es die Krieger des „Mecha“, eines Ur-Genres des Animes, in ihren futuristischen Kampfrobotern tun. Ist Eren-Titan das Produkt eines genetischen Experiments? Schlummert ein Titan in jedem von uns? Die Serie tut das, was Anime generell am besten kann: Sie zersetzt die Vorstellung vom Eigenen und dem Fremden in einer wuchernden, auch melodramatischen Erzählung. Ein Narrativ, das alles, was wir über dieses Universum zu wissen glauben, zur Disposition stellt.

Dass „Attack on Titan“ auch in unseren Breitengraden so gut „lesbar“ ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Animes schon immer von anderen Kulturen beeinflusst waren. Sie sind ein Durchlauferhitzer für populäre Mythen und Zeichensysteme – von der Bibel bis zum Superheldencomic. Dabei zeigt sich der Drang zur Vermischung auf allen Ebenen, in der Zeichnung der Figuren, von denen viele in der schwedischen Fußballmannschaft weniger auffällig wären als in der japanischen, auf den Tonspuren, die Händel, Flamenco und Jazz mixen, in fließenden Genreübergängen und den Geschichten.

Animes bearbeiten auch Probleme der japanischen Gesellschaft

Wie Eren Jäger in „Attack on Titan“ sind Animehelden Gestaltwandler: zwischen Ethnien und Geschlechtern, Natur und Technik, Diesseits und Jenseits. Dichotomisches Denken oder manichäische Weltentwürfe sind dem Anime fremd, selbst in den apokalyptischen Maschinenkriegen des „Mechas“. Querpässe und Seitenwechsel finden sich überall als Strukturprinzipien, vom Klassiker „Neon Genesis Evangelion“ aus den Neunzigern bis zum erfolgreichen Neuzugang „Darling in the Franxx“, einem Mix aus Roboter-Science-Fiction und Liebesgeschichte, der interessante Fragen zur psychosexuellen Entwicklung der Menschheit aufwirft.

Natürlich bearbeiten Animes auch spezifische Probleme der japanischen Gesellschaft. Das Trauma von Fukushima, der Konformitäts- und Erfolgsdruck, die digitale und kommerzielle Formierung sind nur einige davon. Da flackert auch schon mal der Nationalismus des Premiers Shinzo Abe auf, der eine Revision der konkurrenzlos pazifistischen Verfassung Japans anstrebt. Die Military-Serie „Gate“ etwa lässt die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte, die nur an friedenserhaltenden Maßnahmen teilnehmen dürfen, in einer magischen Parallelwelt gut gelaunt Krieger mit Schwertern und Bogen abballern – ein unverhohlenes Plädoyer für den verschärften Auslandseinsatz.

Jeder ist seine eigene Ethnie oder Lifestyle-Gruppe

Im Großen und Ganzen hat sich an der wilden Diversitätspolitik des Animes – manche Kulturwissenschaftler halten sie für die fortschrittlichste in der aktuellen Popkultur – allerdings nichts geändert. „Tokyo Ghoul“ begann 2014 wie ein Zombie-Szenario. Aber anders als die Untoten, wie sie seit Jahrzehnten planlos durch US-amerikanische Filme streifen, treten die japanischen Ghule als gut organisierte urbane Community auf, die immer komplexere Koalitionen bildet. Die visuell gewöhnungsbedürftige, weil komplett computeranimierte Thrillerserie „Ajin – Demi-Human“ erzählt von einer verfolgten Minderheit, einer neu entdeckten Spezies. Sie ist menschlich, aber unsterblich, weshalb grauenhafte Experimente an ihr durchgeführt werden. Und die Zuschauer müssen sich in Bezug auf den rätselhaften jungen Protagonisten ständig neu positionieren.

Wie das Ganze ohne Altersbeschränkung funktioniert, zeigt die Superheldengeschichte „My Hero Academia“. Sie geht von der Annahme aus, dass die Normalos in der Minderheit sind und 80 Prozent aller Menschen durch Mutation mit wunderlichen Extras ausgestattet wurden, mit Froschzunge, Nabel-Laser oder explosivem Schweiß. Hier ist praktisch jeder seine eigene Ethnie oder Lifestyle-Gruppe – ein interessantes Szenario angesichts der immer noch außergewöhnlich homogenen japanischen Gesellscha

2018 ist ein gutes Jahr für Anime-Fans. Mit den dritten Staffeln von „Attack on Titan“, „Tokyo Ghoul“ und „My Hero Academia“ melden sich beliebte Serien zurück; im Herbst wird das Finale des Longsellers „Fairy Tail“ erwartet. Auch die großen internationalen Streamingdienste sind auf den Zug aufgesprungen, denn ihnen ist aufgegangen, dass das Publikum von Animes weit über die Zielgruppe „männlich, jung, nerdig“ hinausreicht.

Spezialisierte Streamingplattformen bieten Animes an

Vor allem Netflix hat gerade viel investiert, in Lizenzen und Eigenproduktionen. Das kuratorische Prinzip ist allerdings nicht recht durchschaubar. Vom Klassiker „Naruto“ etwa sind nur Einzelteile zu haben; bei den Netflix-Originalen gibt es ein erhebliches Qualitätsgefälle. Die Strategie, Live-Action-Versionen zu drehen, womöglich gar „amerikanisiert“ wie die Adaption der Kultserie „Death Note“ , wird von den wahren Fans ohnehin nicht geschätzt.

Diese lieben Mangas und Animes gerade wegen ihrer unverwechselbaren grafischen Qualitäten, ihrer visuellen „Künstlichkeit“, des Mix aus „autochthonen“ und geliehenen Elementen. Und an den Serienstoff zu kommen, war schon vor der Netflix-Offensive nicht schwer. Spezialisierte Streamingplattformen wie Anime on Demand und Crunchyroll bieten hierzulande mehrere Tausend Animes an, synchronisiert oder mit Untertiteln. Auch der Sound der Figuren ist wichtig, die Originalsprecher sind regelrechte Stars in Japan. In prominenten Fällen wird simultan zur Ausstrahlung in Japan gestreamt, voraussichtlich auch wieder bei der dritten Staffel von „Attack on Titan“.

Wenn die Staffel jetzt startet, sind die Mauern um die Menschensiedlung brüchig geworden. Die Helden wissen nicht, wem sie noch trauen können, und ein Schlüsselsatz ist gefallen: „Es gibt eine Welt da draußen“. Er könnte am Ende auch die Agenda des nationalkonservativen Japan bestätigen: losziehen und Flagge zeigen. Oder es bedeutet, dass sich in den aktuellen Konflikten Gesellschaften öffnen und Traditionen preisgegeben werden müssen. Politik im Anime ist eine verdammt komplizierte Sache.

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