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Idyll. Der Yorkshire Dales Nationalpark in Cumbria ist geprägt Tälern und geheimnisvollen Kalksteinhöhlen.

© imago/UIG

Jane Gardams Roman „Bell und Harry“: Huckleberry Finn in Yorkshire

Jane Gardams Roman „Bell und Harry“ erzählt in neun Geschichten von einer wunderbaren Freundschaft zweier Jungen aus ungleichen Familien.

Wer in der nordwestlichen englischen Grafschaft Cumbria unterwegs ist, kann manchmal, wenn er genau hinhört, unter seinen Füßen eine Art Rhythmus wahrnehmen. Das Geräusch, das an ein klopfendes Herz erinnert, stammt vom Wasser, das unterirdisch durch Tunnel und Höhlen rauscht, die sich durch den felsigen Boden ziehen. Hollow Land, Hohles Land, wird die Gegend auch genannt, in der jahrhundertelang nach Silber und anderen Erzen gegraben wurde.

In der dramatischsten Episode von Jane Gardams Roman „Bell und Harry“ (aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin 2019, 188 Seiten, 20 €, ab zwölf Jahren) werden der achtjährige Bell Teesdale und sein fünfjähriger Freund Harry Bateman, die Helden des Buches, in einem Bergstollen verschüttet. Ein Erdrutsch verschließt das Loch, durch das sie eingestiegen waren. „Es gab keinerlei Anzeichen dafür“, heißt es lakonisch, „dass drei Meter über ihren Köpfen, wo sie fünf Minuten zuvor noch in den Himmel geschaut hatten, die Schafe und die Moorhühner immer noch einen ganz normalen Sommertag verbrachten“. Die Jungs fühlen sich, als ob sie in Mark Twains Abenteuergeschichte „Huckleberry Finn“ hineingeraten wären, wo sich ein paar Kinder in einer Höhle verlaufen. Hat jetzt ihre letzte Stunde geschlagen? Nein, Bell und Harry kriechen zum vergitterten Stollenausgang und machen so lange Krach, bis sie gehört und gerettet werden.

Eine wunderbare Freundschaft beginnt

Gardams Roman, dessen englische Originalausgabe bereits 1981 erschienen ist, handelt vom Aufeinandertreffen zweier Kulturen. Die Batemans stammen aus London, sie haben das Farmhaus Light Trees von Bells Großvater gemietet, um sich auf dem Land vom Großstadtstress zu erholen. Allerdings möchte der Vater, der als Journalist bei einer Zeitung arbeitet, gleich wieder abreisen, weil auf den umliegenden Wiesen bis in die Nacht Heu gemäht wird. Gnadenlos knattern die Trecker und Mähdrescher. Ruhe und Frieden waren den Gästen versprochen worden. Nun ist es im vermeintlichen Idyll „schlimmer als am Piccadilly Circus“.

Städter und Dörfler verstehen einander nicht. „Mein Dad hätte auch Chinesisch sprechen können und der Londoner die Eskimosprache“, konstatiert Bell, der in den meisten der neun lose miteinander verbundenen Geschichten als Erzähler fungiert. „Krach“ heißt bei den Teesdales, dass man miteinander streitet. Bei den Batemans steht es einfach nur für Lärm. Am Ende bringt Vater Teesdale Teekuchen zu den Batemans und entschuldigt sich für die Belästigung. Auf Aufruhr folgt Versöhnung. Jahrelang werden die Leute aus der Hauptstadt nun jeden Sommer und mitunter auch im Winter in das jahrhundertealte Bauernhaus zurückkehren. Für die Söhne ist es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Im Hohlen Land, heißt es einmal, „mangelt es an vielem, aber nicht an Geschichten“. Aberglaube ist weit verbreitet, man erzählt sich von Feen, Vampiren und Gespenstern. Eine alte Frau mit einer weißen Schürze sucht seit Jahrhunderten Nacht für Nacht ihren Sohn, der einst im Moor verschwand. Und manchmal, an besonders stillen Tagen, kann man die Geister der Bergmänner hören, die in den Stollen mit ihren Hacken lärmen, Loren auf Schienen hin- und herschieben und sich in einer altertümlichen Sprache unterhalten.

Das Personal des Romans gleicht einem Kuriositätenkabinett

Nicht weniger gruselig kommen Bell und Harry einige der Dorfbewohner vor. Die Eierhexe, eine „große quadratische Frau in einem tristen Kleid“, lebt in einem Bauernhaus, das zwar Blue Barns heißt, aber komplett schwarz gestrichen ist. Über ihrem stählernen Mund sprießt ein drahtiger Schnurrbart. Ihre Mutter hat seit sieben Jahren das Bett nicht mehr verlassen. „Ihr fehlte gar nichts, aber eines Tages war sie einfach nicht mehr aufgestanden.“ Das Personal des Romans, der sich mit den staunenden Augen der beiden Kinder durch den Ort bewegt, gleicht einem Kuriositätenkabinett.

Jane Gardam, die vor 91 Jahren in Yorkshire geboren wurde, ist in Deutschland erst spät bekannt worden, mit ihrer Romantrilogie über den Kronanwalt Old Filth, deren Übersetzungen ab 2015 herauskamen. Von der psychologischen Raffinesse dieser Bücher, die jeweils dieselbe Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählen, ist in „Bell und Harry“ noch nicht viel zu spüren. Aber ihren nüchternen, oft sarkastischen Tonfall hat Gardam schon in diesem Frühwerk gefunden, das 1983 mit dem Whitbread Award ausgezeichnet wurde, einem der renommiertesten britischen Kinderbuchpreise.

Vernichtend fällt ihre Charakteristik des Glücksritters Henry Roberto Hewitson III. aus, der aus Brasilien in die Grafschaft Cumbria kommt, um Besitzansprüche am Hof der Teesdales anzumelden. Wo bei anderen Menschen ein Herz schlägt, steckt in seiner Brust bloß ein Verteilerkasten. Seit seiner Geburt hat er nie etwas anderes getan, „als es zu etwas zu bringen“. Sein Besuch endet im Desaster.

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