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Porträt des Genies als junger Mann. Der 24-jährige britische Musiker James Blake.

© Universal

James Blake: Neues Album „Overgrown“: Das Tiefkühlgefühl

Evolution statt Revolution: Dubstep-Songwriter James Blake festigt mit seinem zarten zweiten Album „Overgrown“ seine Stellung als einer der wichtigsten Klangschöpfer seiner Generation.

Von Jörg Wunder

Es gibt im Norden Europas vermutlich kaum noch Menschen, die sich über das meteorologische Phänomen des nicht enden wollenden Spätwinters freuen. Möglicherweise gehört James Blake zu ihnen. Im Normalfall wäre der 24-jährige Brite mit der Veröffentlichung seines zweiten Albums „Overgrown“ (Universal) mitten hinein ins lebensbejahende Frühlinggeknospe geplatzt. Das hätte zum Problem werden können, denn sein abgrundtief melancholischer Songwriter-Dubstep ist alles Mögliche, aber sicher keine Frühlingsmusik. So aber bringt Blake seine balsamische Soundmixtur noch rechtzeitig an den Start. Schon das Foto auf dem Cover – Blake als verlorener Schneewanderer vor verwitterter Betonmauer (Bunker? Staudamm?) – strahlt so winterliche Vibes aus, dass man sich vor den knisternden Kamin zurückziehen möchte.

Dort könnte man sich an den delikaten Klangtexturen der zehn Stücke delektieren, die Blake in monatelanger Heimarbeit ziseliert hat. „Overgrown“ wird niemanden verstören, der sein vor zwei Jahren erschienenes Debütalbum mit dem schlichten Titel „James Blake“ kennt. Natürlich gibt es Verschiebungen im Soundbild, das nicht mehr ganz so schroff, nicht mehr ganz so löcherig ist und variationsreichere, üppigere Arrangements bereithält. Doch das zentrale Erkennungsmerkmal der Musik von James Blake ist geblieben: seine Stimme. Blake besitzt ein samtenes, ins Falsett ragendes Organ, das ebenso geschmeidig in gutturale Tiefen hinabsteigen kann. Ein oft elektronisch manipulierter oder zu elysischen Chören aufgefächerter Engelsgesang, dem keinerlei Anstrengung innezuwohnen scheint.

Nur zwei Sänger im zeitgenössischen Pop haben vergleichbare Stimmen: Antony Hegarty und Justin Vernon. Doch es ist nicht nur die Musik – Hegarty singt sinfonische Torch Songs, Vernon mit Bon Iver traurige Americana –, die Blake als Typus von beiden unterscheidet. Denn während Hegarty als Schmerzensfrau im Körper eines Mannes und Vernon als liebeswunder Walderemit die ihren Gesang durchflutende Melancholie auch gelebt haben, fragt man sich bei Blake, wo das Abgründige, das Weltmüde herkommt.

James Blakes Biographie spielt im Album „Overgrown“ keine große Rolle

Biografische Verwerfungen scheinen sich in seinem Gesang eher nicht zu spiegeln. Blake stammt aus geordneten Nordlondoner Verhältnissen, wurde zudem früh gefördert von seinem Vater James Litherland, Gitarrist der legendären Progrockband Colosseum. Frühkindlicher Klavierunterricht und eine klassische Musikausbildung am renommierten Goldsmith College zeichneten nicht gerade eine Karriere als Popstar vor, die er auf einem Umweg einschlug. Sein Einstieg in die Welt der Popmusik war der des Clubgängers. Als aufmerksamer Beobachter der rührigen Londoner Dubstep-Szene begann er bald selbst damit, Stücke in diesem radikal abstrakten, mit rhythmischen Brechungen und klaftertiefen Bässen operierenden Idiom zu programmieren. Schon seine 2010 erschienenen EPs mit erratischen Titeln wie „CMYK“ oder „Klavierwerke“ ließen aufhorchen, doch das Album war ein Quantensprung.

James Blake stellte die Überblendung der disparaten Elemente „elegischer Gesang“ und „niederfrequenter Elektroniklärm“ in künstlerischer Vollendung zur Disposition – und landete die Pop-Sensation des Jahres 2011. Im Handstreich wurde Blake das Aushängeschild eines Genres, dessen Protagonisten sonst zur Camouflage neigen und ihre Identitäten hinter Pseudonymen wie Burial, Kode9 oder Skream verbergen. Blake war kein Hitparadenstürmer, seine Musik eine allmählich in den Mainstream träufelnde Droge. Weltweit verkaufte sich das Album 400 000 Mal, was im Vergleich zu Großverdienern wie Adele bescheiden klingt, aber für den Emporkömmling einer Nischenmusik bemerkenswert war.

Der Erfolg und die Wirkung des Debütalbums verschafften Blake Zutritt in die Kreise des Pop-Hochadels. Seine Plattenfirma hätte es sicher gern gesehen, wenn Stars des Kalibers Kanye West oder Jay-Z auf dem mit großer Spannung erwarteten Nachfolgealbum aufgetaucht wären. Blake jedoch war klug und dickköpfig genug, um seinem eigenen kreativen Impetus zu vertrauen. Sein Eigensinn geht so weit, dass er die Tracks nicht nur selbst geschrieben, sondern auch im Alleingang im Heimstudio aufgenommen hat. Das Motiv für diese Genügsamkeit dürfte eher ein emanzipatorischer Konzentrationsprozess sein als Knauserigkeit in Sachen Produktionsmittel.

James Blake spielte das Album allein im Heimstudio ein

Porträt des Genies als junger Mann. Der 24-jährige britische Musiker James Blake.
Porträt des Genies als junger Mann. Der 24-jährige britische Musiker James Blake.

© Universal

Ohnehin ist davon nichts zu hören. Im Gegenteil: Die so subtilen wie vielschichtigen Arrangements demonstrieren die Möglichkeiten, unabhängig von der Infrastruktur professioneller Studios zu produzieren. So wartet das Titelstück „Overgrown“ nicht nur mit charakteristischen Basskaskaden und Blakes zerdehntem Falsettgesang, sondern auch mit flirrend-verwehten synthetischen Streicher- und Bläserschraffuren sowie einem prägnanten Hihat-Gezischel auf – hier durfte Tourperkussionist Ben Assiter aushelfen.

„I Am Sold“ lässt einen dann wieder in diese frappierenden Soundabgründe fallen, nach denen der Killerbass wie ein Schwinger in die Magengrube fährt, derweil Blake zu einer simplen Klavierfigur wie ein Mantra die Zeilen „And we lay nocturnal/Speculate what we feel“ haucht. „Life Round Here“ wird von einem barocken Synthesizermotiv und morbiden Schwabbelbässen unterströmt. Die Single „Retrograde“ fängt als blätterteigzartes Balladengesäusel an, bis Blake die elektronischen Daumenschrauben anlegt und alles in einem strahlenden Refrain auflöst. „DLM“ ist eine Klavierminiatur, die von einem verhallten Chorus durchweht wird, der wie das auf Schellack gebannte Echo einer Geisterséance klingt.

Der Sound von James Blake ist gewachsen

Bei „Digital Lion“ hat James Blake tatsächlich mal einen prominenten Gast: den Ambient-Pionier Brian Eno. Dessen monochrome Synthieflächen fügen sich harmonisch ins Klangbild des energisch pulsierenden Tracks, der die eigentliche Überraschung des Albums vorbereitet: Auf „Voyeur“ erlaubt sich James Blake endlich mal so etwas wie einen geraden Beat, der samt Kuhglockengeklöppel und Luftalarmsirene die wohl größtmögliche Annäherung des Eigenbrötlers an den physischen Imperativ des Techno darstellt. Der andere Überraschungsmoment der Platte hat wieder mit einem Gastauftritt zu tun: RZA, Chefproduzent der New Yorker Hip-Hop-Institution Wu- Tang Clan, veredelt „Take A Fall For Me“ mit einem schläfrig vernuschelten Rap, der das Textvolumen des Albums in etwa verdoppelt. Verblüffend, wie gewachsen das klingt: Blakes bröselige Soundscapes in Verbindung mit RZAs Flow scheinen sogar einen Weg aus der Sackgasse des Hip-Hop-Mainstreams zu weisen.

Sein zweites Album dürfte James Blake als einen der wichtigsten Klangschöpfer unserer Tage etablieren. Die Stücke spiegeln die emotionale Bipolarität der Generation Facebook, die sich zwischen musikalischen Extremen – hier die Lagerfeuermelodik ungezählter Songwriter-Helden, dort krassester Elektrokrawall wie bei Skrillex und Konsorten – aufreibt. Blake schafft es, die Gegensätze zu harmonisieren, ohne ihnen die Energie abzuwürgen. „Overgrown“ ist eine Platte der sanften, der kontinuierlichen Evolution, die jedoch ein wenig verschattet wird von ihrem Vorgänger, der noch etwas mehr war. Nämlich eine Revolution.

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