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Jaimie Branch

©  Mark Pallman/Jazzfest

Jaimie Branch beim Jazzfest Berlin: Keine Angst vorm Fliegen

Von Punk und Grunge zur Avantgarde: Die junge New Yorker Trompeterin Jaimie Branch ist die Entdeckung beim 55. Berliner Jazzfest.

Zu übersehen ist sie nicht, mit dieser Trainingsjacke mit dem Emblem eines Sportartikelherstellers, leuchtend rot oder strahlend blau. Schon gar nicht in diesem Umfeld, in der Jazzszene, wo man landläufig eine etwas pastelligere Farbgebung für geschmackvoll hält. Sie ist auch nicht zu überhören, nicht, wenn sie ihre Trompete ansetzt und eine dieser eruptiven Tonkaskaden ausstößt, die dem Fauchen einer verletzten Raubkatze ähneln und an die heroischen Zeiten des Free Jazz in den sechziger Jahren erinnern. Die Trompeterin Jaimie Branch füllt eine Lücke: ein Kraftpaket mit einem gehörigen Schuss Punk-Attitüde, eine Berserkerin, die musikalische Konventionen allenfalls beachtet, um sie zu umgehen. Beim Berliner Jazzfest ist das Deutschlanddebüt der New Yorker Musikerin einer der nicht mehr ganz so geheimen Geheimtipps.

Im vergangenen Jahr hat die Trompeterin, die mittlerweile in Brooklyn lebt, ihr Debüt-Album veröffentlicht: „Fly or Die“, ein großer Wurf. Mit der unkonventionellen Besetzung Trompete, Cello, Bass und Schlagzeug trumpft ihr Quartett mit einem exquisiten, akustisch geprägten Klangbild, das die Leaderin mit subtilen Spielereien an den Reglern des Mischpults an den Klangkosmos der modernen Elektronik anschließt. Prägnanter jedoch sind die erdigen, treibenden Rhythmen, die das Album prägen und die klar konturierten Melodien, die den Ausgangspunkt bilden für bisweilen eruptive Durchführungen und Fortschreibungen. Im Gesamtpaket, das Branch stark editiert und zusammengeschnitten hat, bis es zu 35 dichten Minuten Musik kondensierte, zeigt sich ihr Gespür für Ökonomie. „Ich spiele mit Ideen herum“, sagt sie, „umkreise sie, nehme sie auf, und irgendwann finde ich das, was es einmal wird. Das Material für ,Fly or Die’, das habe ich einfach gesungen, damit im Kopf gespielt und es dann aufgeschrieben. Das ging alles ziemlich schnell."

Jaimie Branch, 35, geboren auf Long Island, mit neun in die Welt geworfen. Die Familie zieht nach Wilmette, eine gut situierte Schlafstadt im Norden von Chicago, sehr weiß und sehr spießig. In der Schule soll sie in der Schulband spielen, weil der Kontrabass nicht verfügbar ist, bleibt ihr nur die Wahl zwischen Oboe, wie es ihre Mutter wünscht, oder Waldhorn, wie der Lehrer vorschlägt. Sie wählt die Trompete.

Hingezogen zum Lärm

Branch war jung, sie hörte Michael Jackson, Beastie Boys und die Popmusik der Neunziger, all das, was ihre Halbbrüder und andere junge Leute hörten. Bald fühlte sie sich zu kraftvolleren Klängen hingezogen, besonders gefielen ihr die Verzweiflungsschreie des Grunge und die rohe Energie des Punk. Das war es für sie: die Selbstermächtigung, das Tun vor die Reflexion zu stellen, erst einmal loszuziehen und dann erst über das erforderliche Können nachzudenken. Noch heute formuliert sie einfache Antworten auf die Frage nach ihren musikalischen Beweggründen: „Ich spiele einfach das, was ich höre.“ Daneben wird das provokative Spiel mit den Zeichen, mit den Insignien der Verweigerung und der Bürgerverachtung, mit abgerissener Kleidung und gerupften Frisuren zum Gegengift gegen die Vorstadtödnis in Wilmette.

Gleichzeitig spielte sie Trompete, war begabt und fleißig, mit jedem Fortschritt auf ihrem Instrument näherte sie sich der Welt des Jazz. Wirklich ernst wurde die Sache 1999. Branch war 16, sie hatte jede Menge Ärger, experimentierte, mit Musik und dem Leben, Erlaubtem und Verbotenem, Leichtfertigem und Unbedachtem. Auf einer Jazzstation im Radio hörte sie ein Stück, das alles auf den Punkt brachte, was sie fühlte und dachte: „Lonely Woman“, die bittersüße Ballade von Ornette Colemans Album „The Shape of Jazz to Come“, der musikalischen Unabhängigkeitserklärung des Saxofonisten. Don Cherry spielte die Trompete. Nun war sie am Haken. Umgehend kaufte sie das Album und war sehr verblüfft zu entdecken, dass es bereits vierzig Jahre zuvor, 1959, Entsetzen unter den Hütern der Jazztradition hervorgerufen hatte. Abends fuhr sie nun nach Chicago, um in den Clubs die Sounds zu entdecken, die es in der Vorstadt nicht gab.

Rückenwind aus Chicago

Erst einige Jahre später im Studium am New England Conservatory in Boston ging ihr auf, welche Bedeutung Chicago für die Entwicklung des Avantgarde-Jazz hatte. In den Ferien trieb es sie in ihre Heimatstadt zurück. „Wenn du Free Jazz spielen willst, dann gibt es in Chicago keinen Mangel an Clubs. Ich habe da überall gespielt und habe versucht, herauszufinden, was ich eigentlich zu sagen habe.“

Auch in Chicago hatte sich der Rückenwind, den die Gründung des afroamerikanischen Musikerkollektivs Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) um den vor einem Jahr gestorbenen Pianisten Muhal Richard Abrams im Mai 1965 ausgelöst hatte, bis zum Beginn des Jahrtausends zur steten Brise abgeflacht, andere Akteure waren dazugekommen. Kein Wunder, so Branch, denn „das Leben ist in Chicago viel billiger als in New York, deshalb hast du mehr Zeit, mit deinen Musikern zusammenzubleiben. Du kannst mit deiner Band in einem Haus leben und die ganze Zeit proben.“

Dennoch war eine Errungenschaft aus dem Umfeld der AACM für die junge Trompeterin das entscheidende Trittbrett: bei einer der sonntäglichen Jam-Sessions in der Velvet Lounge, einem Club, den der Saxofonist Fred Anderson, einer der Gründerväter der AACM, zum Zentrum der Free-Jazz-Szene von Chicago und einem der wichtigsten Clubs weltweit machte, sicherte sich die Trompeterin den ersten Applaus. „Fred war ein wunderbarer, natürlicher Lehrmeister, sehr offenherzig, einer, der andere dazu ermutigte, zu spielen. Wenn er sagte, das klang gut, dann war das wirklich wichtig. Er half mir zu verstehen, was Musik sein kann.“

Jazz ist wie Skateboardfahren

Jaimie Branch hat lange gebraucht, bis sie das, was ihr Anderson auf den Weg gegeben hatte, in eine eigene Musik und in eigene Worte übersetzen konnte: Fly or Die, entweder – oder. „Im Jazz ist alles möglich“, sagt sie nun etwas weniger kompromisslos, „Jazz ist wie Skateboardfahren, alles was du tust, ist cool – du musst nur landen können. Für mich ist das der schnellste Weg, in die Zone zu kommen. Es passiert nicht immer, aber wenn du es in die Zone schaffst, das fühlt sich großartig an.“ Vorm Fliegen hat sie inzwischen keine Angst mehr.

Das Jazzfest Berlin (1. bis 4. November) findet erstmals unter der künstlerischen Leitung einer Frau statt. Nadin Deventer hat ein Programm zusammengestellt, dessen Schwerpunkte die Jazzstadt Chicago, Afrofuturismus und der europäische Jazz sind. Jaimie Branch spielt beim Jazzfest am Freitag, den 2. November, ab 20 Uhr im Haus der Berliner Festspiele. Dort stehen an diesem Abend außerdem das Art Ensemble of Chicago, Camae Ayewa, Roscoe Mitchell und Irreversible Entanglements auf der Bühne.

Stefan Hentz

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