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Jahrhundertbuch: Die Seele freilegen

Mystiker alles Sinnlichen: Peter Nádas und sein erotomanischer Jahrhundertroman „Parallelgeschichten“.

Das Gerücht, es handle sich um eine Sensation, war dem Roman seit Jahren vorausgeeilt. Jetzt stehen wir vor dem europäischen Ereignis von Péter Nádas’ „Parallelgeschichten“. Das ungarische Original, 2005 erschienen, hatte dem Autor zwar Hymnen von Kollegen eingebracht, doch es war und ist auch eine Provokation, nicht nur für das reaktionäre Ungarn des Viktor Orbán, sondern für jeden Biedersinn und den gesunden Menschenverstand überhaupt.

Der Umfang der „Parallelgeschichten“ ist beträchtlich, der Anspruch immens. 1728 Seiten, in 39 Kapitel und drei Bücher gegliedert. 18 Jahre soll Nádas daran gearbeitet haben. Das Werk enthält tatsächlich parallele Geschichten, mit einer Unmenge an Personal. „Menschen, die sich niemals begegnet sind oder sich nur sehr oberflächlich kennen und deren Schicksal trotzdem grundlegend voneinander bestimmt wird.“ Am Anfang ein Toter im Berliner Tierpark. Vielleicht Agóst, der Diplomat? Am Ende ein Toter im Garten des Gefängniswärters. Gewiss der Brotdieb. Dazwischen Geschichten.

Der Autor, Jahrgang 1942, fragt sich, „ob ein solch verborgener und rätselhafter Zusammenhang in einer geschlossenen Erzählform“ überhaupt möglich ist. Und nicht nur er. Ich habe die einzelnen Geschichten fasziniert, teils begeistert, oft mit Bangen, manchmal mit Widerwillen und Abscheu, auch Verzweiflung, aber nie gleichgültig gelesen. Einen Zusammenhang habe ich lange kaum erkennen können. Erst beim Zurückblättern oder zweiten Lesen, schließlich unter Zuhilfenahme des Begleitbandes „Péter Nádas lesen" hat sich mir so manche Parallele doch noch erschlossen.

Dabei geht es ja nicht nur um die großen Erzählstränge, die vor allem in Ungarn und Deutschland, Berlin und Budapest spielen, vor und nach dem Krieg, bis zu den Wendejahren. Es geht auch um die kleinen, fast versteckten Parallelen an der holländischen Grenze oder am Meer, auf dem platten Land in Ungarn, am Ufer der Donau. Mal sind es nur ein paar Fahrräder, dann versprengte ungarische Soldaten, die in unerwarteten Zusammenhängen wieder auftauchen.

Nicht nur die Perspektiven wechseln, auch die Erzählstimmen, manchmal, meint man gar, mitten im Satz. So wird bei einer langen Taxifahrt durch Budapest das Gespräch zwischen dem Fahrer, einem enteigneten Adligen und seinen beiden Fahrgästen, den weiblichen Hauptpersonen des Romans, durch die inneren Monologe aller drei Personen immer wieder durchbrochen. Alte Erinnerungen mischen sich mit gegenwärtigen Eindrücken. Dabei ergeben sich nicht nur drei verschiedene Sichtweisen auf diese eine Autofahrt, sondern auch eine Anzahl von Rückblenden auf Ereignisse, die aus anderer Perspektive bereits erwähnt worden waren oder erst im Fortgang eine Rolle spielen. Die beiden Frauen sitzen einander „zugewandt wie Spiegelbilder“. Es knistert geradezu vor erotischer Spannung. „Sie schienen sich auf den Sitz zu drücken, mit zusammengepressten Schenkeln, eingezogenem Bauch und den Oberkörper ein wenig vorgewölbt. Das war das Lustvolle, hier einander präsent zu sein. Sich dem anderen zu überlassen, was nicht nur nicht alltäglich war, sondern ihnen auf eine tiefere, sorglosere Art vertraut vorkam. Also konnte man tatsächlich von Ágost in Frau Erna übertreten, und Gyöngyvér hatte nicht einmal bemerkt, wie das vor sich gegangen war.“ (Agóst ist der Liebhaber in diesem Buch, Erna seine Mutter, Gyöngyvér seine Geliebte.) Dann tauchen an anderer Stelle, im Zentrum des Buches, Gestalten auf, die sich in das Bewusstsein der Protagonisten ebenso einbrennen wie in das Gedächtnis der Leser. Der Mann als bloßer „Rumpf“ und die „Brandwunde auf zwei Beinen“. Mann und Frau, zwei Allegorien des Schreckens.

Der Krieg liegt zehn Jahre zurück, der niedergeschlagene Ungarnaufstand von 1957 erst einige Wochen. Das ganze Elend ist noch öffentlich. Blinde, die sich tastend durch den Verkehr schieben, Verkrüppelungen jeder Art, unverhüllt ausgestellt. Aufgerissene Straßen, Schienen aus den Straßenbahngleisen gerissen. Einschusslöcher an den Wänden. Und mitten in diesem Chaos der junge Kristof, der seine Eltern verloren hat und nun in der Stadt umherirrt.

Kristof, das alter ego des Autors, gehört nirgendwo dazu, weder zum großbürgerlichen Haushalt seiner Tante, bei der er aufwächst, noch zu den winselnden Tunten, die um seinen „Schwanz“ betteln. Kristof lebt seine homosexuellen Neigungen aus. Doch er verliebt sich auch in Klara. Er lässt sich treiben durch das Budapest der fünfziger und sechziger Jahre. Kristof ist eine Membran, in der das Zittern der Zeit spürbar wird, die kleinsten Erschütterungen wie die mächtigen Sensationen.

„Fast jeden Morgen sah ich einen Mann, der nur noch aus Rumpf bestand. Er schob sich zwischen den Beinen der Fußgänger auf einem Brett mit Rollen vorwärts. Er rollte aus der Szófia-Straße heraus, bremste mit den Händen, die in dicken Lederhandschuhen steckten. Er sagte die immer gleichen zwei Sätze. Wenn ich auf der anderen Seite um etwas Hilfe bitten darf. Ein unglückseliger Kriegsversehrter dankt im Voraus für Ihre Freundlichkeit. Und wenn er auf der anderen Seite ankam, neigte sich der Torso vor, die beiden behandschuhten Hände stützten sich auf dem Gehsteig ab, die starke Schultermuskulatur spannte sich, und als wäre es eine Übung am Reck, schwang er sich leicht und elegant hinauf und vermochte seinen Rumpf sogar in der Schwebe zu halten. In diesem Moment musste man das Rollbrett unter die Stümpfe schieben."

Kristof versucht, diesen Vorgang aus einem gewissen Abstand zu beobachten. Manchmal folgt er dem Mann noch ein Stück. Bis er von dem nächsten Schrecken angezogen und abgestoßen wird. Einer „Brandwunde auf zwei Beinen“, einer eleganten Dame. Ein riesiger Hut hält ihr Gesicht im Schatten. „An der Stirn eine unwahrscheinliche Einbuchtung. An ihrem Gesicht Narben, Schnitte, grob geschwollene Nähte. Keine Nase, keine Lippen, nur ein Spalt und zwei dunkle Löcher am Nasenansatz.“

Den Mann, sagt Kristof wie in einer Zwangsvorstellung, muss er sich „als seinen Vater vorstellen“. In der Frau ohne Gesicht meint er seine Mutter zu erkennen. Doch selbst von solchen Gestalten geht noch eine Art Faszination aus. Selbst diese Schreckensbeschreibungen sind magisch aufgeladen von Nádas’ Sprache. Einem Geflecht aus Wahrnehmungen und Empfindungen, untrennbar verschlungen, mit atemberaubender Präzision beschrieben. Die ungarische Kritikerin Victória Radics hat dieses Verfahren treffend Mikro-Realismus genannt.

Natürlich ist es unmöglich, einen derart umfangreichen Stoff zu bändigen. Der traditionelle Roman stößt damit an seine Grenzen. Doch die größten Romane des 20. Jahrhunderts sind alle darüber hinweggegangen: Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Prousts „Recherche“ oder auch Nádas’ eigenes „Buch der Erinnerung“. Er habe, sagte Nádas seinerzeit, einen Roman schreiben wollen, nicht seine Memoiren. Es war seine Absicht, „Erinnerungen zu beschreiben, ein wenig wie Plutarch, parallele Erinnerungen verschiedener Personen zu verschiedenen Zeiten, und die verschiedenen Personen wären alle ich, ohne dass ich es wirklich wäre.“

Diese Orientierung an der „Schönheit meiner Regelwidrigkeit“ hat Nádas nun weitergeführt. Das Ergebnis ist ein Monumentalroman, der sich seine eigenen Gesetze gibt. Der Mikro-Realismus schafft die Dichte, pathetisch gesagt: das Leben. Plutarchs Parallelen schaffen die Weite, kurz: die Welt. Die vielen Ichs, die sich hier tummeln, schaffen die vielen Geschichten, vom Krimi bis zum Familienroman, von der Abenteuergeschichte bis zum Kriegsbericht.

In der Beschreibung von Kristofs Besuch auf der Margareteninsel, seinerzeit einem verbotenen Schwulentreff mit gelegentlichen Razzien, zittert noch immer die Spannung durch, unter der dieser junge Mann lebte. Die Erzählung von seinem Anpirschen, die Distanz zu den fast unwirklichen Gestalten, etwa des „Riesen“ und seines „Gehilfen“, das Verlangen und schließlich das erhoffte, befürchtete Erlebnis, dann panische Flucht, ist das Glanzstück des Romans. Es hält jeden Vergleich aus, auch den mit Jean Genet.

Mag sein, dass Nádas ein Erotomane ist. Eine seiner großen Nebenfiguren, ein bisexueller Architekt, wie viele der Männer in diesem Buch in eine verheiratete Frau verliebt, „vermochte nur zu denken, dass er auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, den einzig greifbaren Wegweiser der Schöpfung in der Erektion finden würde.“ Aber Nádas, anders als Henry Miller, wird darüber nicht zum Mystiker. „Nicht die Sexualität ist bei Nádas mystisch, auch nicht die Erotik, sondern die Sinneswahrnehmung.“ (V. Radics).

Die Wahrnehmung, so hat Nádas in seiner faszinierend entsetzlichen Geschichte „Der eigene Tod“ geschrieben, geht über die Zeitlichkeit hinaus und ist nicht an die Räumlichkeit gebunden. Der Wärmestrom, der sich durch die „Parallelgeschichten“ zieht, und die Tausende und Abertausende von Einzelheiten durchströmt, entspringt dieser Sinnlichkeit. Er hält sich nicht an den Grenzen auf, von Mann und Frau, von Blick oder Fick. Er durchströmt alles Geschehen und jede der Figuren. Auch den wohl längsten „Fick“ der Weltliteratur. Agóst und Gyöngyvér. Vier Tage dauert dieser Akt an. Er wird mit der Präzision eines Pathologen in allen Details auf über hundert Seiten beschrieben und später immer wieder von den beiden unmittelbar Beteiligten und einer zeitweiligen Zuschauerin in Erinnerung gerufen, weiter erzählt, gewichtet und bewertet.

Harold Brodkeys „Unschuld“, rund fünfzig Seiten lang, erscheint dagegen unbeholfen. Um eine solche Genauigkeit zu erreichen, hat Nádas ganze Bibliotheken konsultiert und die dann noch offenen Fragen von Medizinern klären lassen. Auch die sachliche Genauigkeit dient noch der Lust, genauer: ihrem Aufschub. Das vermeintliche Übergewicht, das dieser orgiastischen Beschreibung zuzukommen scheint, relativiert sich, je stärker die poetische Energie der „Parallelgeschichten“ im Fortgang erkennbar wird.

„Er sah keinen Sinn in dieser ganzen Fickerei“, dachte Àgost, während er an der „Wärme seiner Haut“ die Brüste Gyöngyvérs spürte. Auch die Akteure erfahren, was sie in Aktion erlebt haben, also erst im Nachhinein. Wie die Leser. Das Buch wirkt nach. Wie die unvergessliche Gestalt des alten Gefängniswärters. Er sucht, allein auf dem Land lebend, schon etwas verwirrt, „in der Nacktheit eigentlich die verlorene Ruh“. Vergeblich. Denn dazu hätte er, wie es weiter heißt, „das Gewicht seines Körpers von seiner Seele ablösen müssen.“

Péter Nádas: Parallelgeschichten. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. 1728 S., 39,95 €.

Daniel Graf/Delf Schmidt (Hg.): Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den „Parallelgeschichten“. 239 S., 16,95 €. Beide erschienen im Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. Am Montag, den 13. Februar, findet um 20 Uhr im Deutschen Theater Berlin eine Buchpräsentation mit dem Autor, Andreas Isenschmid und Ulrich Matthes statt.

Martin Lüdke

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