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Ausgeliefert: Eine Szene aus „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B“.

© Edition Moderne

Jacques Tardi: Vaters Krieg, Opas Krieg

Der Franzose Jacques Tardi ist einer der wichtigsten Comicautoren der Gegenwart. Ein Kinofilm und eine Ausstellung im Literarischen Colloquium Berlin würdigen den Zeichner.

Der Junge mit der Baskenmütze versteht die Welt nicht mehr. „Papa! Hör auf mit dem Quatsch!“, ruft er. Um ihn herum stehen zerschossene Panzer auf einem Acker. Aus einem Panzer mit der Aufschrift „L’Invincible“ (Der Unbesiegbare) ragt der Leichnam eines Soldaten heraus. „Komm raus aus dem Tank, die Dinger sind gefährlich, Papa!“, fleht der Junge, der vielleicht elf, zwölf Jahre alt ist. Er zeigt auf einen noch intakten Panzer am Waldrand, der auf zwei weitere Fahrzeuge am Horizont zielt. Aus dem Innern ertönt die Antwort des Vaters: „Es heißt nicht Tank, es heißt Panzer! Und jetzt Ruhe, ich muss die Panzer aufs Korn nehmen.“

Der verzweifelte, verständnislose Junge ist das Alter Ego von Jacques Tardi. Der 66-jährige Comicautor und Zeichner ist im comicaffinen Frankreich ein Star, die Auflagen seiner Bücher gehen in die Millionen. Immer wieder hat er in seinen Arbeiten die Schrecken des Krieges thematisiert. Sein aktuelles Buch, das jetzt in Berlin mit einer Ausstellung im Literarischen Colloquium gewürdigt wird, gehört zu seinen bislang persönlichsten Arbeiten. Das zeigt schon der umständliche Titel des ersten Teils der auf zwei Bände angelegten Erzählung: „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB“.

Wie wurde aus dem Idealisten ein verbitterter alter Mann?

Drei Schulhefte hinterließ Tardi senior seinem Sohn, als er 1986 starb. Darin hat der alte Mann seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg festgehalten, den er 1940 wenige Tage als Kämpfer und dann vier Jahre und acht Monate lang als Kriegsgefangener der Deutschen erlebte. „Ich kannte ihn immer nur als ergrauten, bekümmerten Mann“, sagt Jacques Tardi im Dokumentarfilm von Pierre-André Sauvageot; „Tardi schwarz auf weiß“ kommt zeitgleich zur Ausstellung in die Kinos. Darin gestattet der öffentlichkeitsscheue Zeichner Einblicke in seine Arbeitsweise und erzählt dem 52-jährigen Filmemacher, wie ihn der Krieg des Vaters lange beschäftigte, bevor er einen Weg fand, dessen Erinnerungen umzusetzen.

Gelungen ist ihm das mit dem Kunstgriff, sich selbst als Ich-Erzähler und Dialogpartner des Vaters einzuführen – auch wenn er erst 1946 zur Welt kam und erst lange nach dem Krieg mit dem Vater darüber sprechen konnte. Was der Zeichner dann über dessen leidvolle Kriegsgefangenschaft erfuhr, erschütterte ihn so sehr, dass er den Vater Anfang der 80er Jahre bat, das Erlebte aufzuschreiben. Der Sohn wollte herausfinden, wie aus einem jungen Idealisten ein verbitterter alter Mann geworden war, der sein Land verabscheute. Ein Land, auf das er gerne stolz gewesen wäre, wenn es sich nicht den Deutschen unterworfen hätte.

„Ich traue meinem Leser nicht allzu sehr“

Rund 30 Jahre später ist daraus nun ein bewegendes Comicalbum entstanden, das ein lange vernachlässigtes Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs erzählt. Angesichts des Grauens in den Konzentrationslagern und auf den Schlachtfeldern schien das Schicksal der Kriegsgefangenen in den rund 120 deutschen „Stammlagern“ (Stalag) vergleichsweise harmlos, nach ihrer Rückkehr erfuhren sie in Frankreich nur geringe Anteilnahme.

Vater und Sohn: Immer wieder hinterfragt in „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB"das jugendliche Alter Ego des Autors das Verhalten des Vaters.
Vater und Sohn: Immer wieder hinterfragt in „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB"das jugendliche Alter Ego des Autors das Verhalten des Vaters.

© Edition Moderne

Staunend und zunehmend fassungslos begleitet der Ich-Erzähler den Vater durch die Kriegsjahre. Immer wieder tritt der Sohn vor die Bilder und kommentiert das Geschehen, das durch und durch authentisch wirkt: die unerträgliche Enge in den Viehwaggons, die die französischen Gefangenen ins Lager in Pommern bringen; die brutalen Rituale und stundenlangen Zählappelle der deutschen Bewacher; der ständige Hunger und der Kampf um das wenige Essen; die sadistischen Bestrafungen bei kleinsten Vergehen; die erniedrigende Zwangsarbeit bei deutschen Bauern; die Sorge um die Familie daheim im besetzten Frankreich; die unendliche Monotonie und Langeweile im Lager.

All dies schildert Tardi in düster-grauen Bildern, bei denen jeder Strich sitzt. „Ich traue meinem Leser nicht allzu sehr und stelle ihn mir als jemanden vor, der meine Bilder falsch entschlüsseln könnte“, sagt er im Film. Also recherchiert und zeichnet er umso exakter.

Der Großvater überlebte im Granattrichter, neben einer Leiche kauernd

Die stärksten Momente des Films sind denn auch jene, die den kreativen Prozess des Zeichnens dokumentieren. Da nähert sich Tardi mit dem Bleistift übers leere Papier tastend seinem Thema, Stück für Stück nehmen Figuren und Kulissen Form an. Dabei lässt sich auch anschaulich studieren, von wem sein Werk geprägt ist. Die rau stilisierten, leicht karikierend gezeichneten Figuren erinnern an US-Undergroundzeichner wie Robert Crumb, die akribisch gezeichneten Kulissen und die klaren Linien lassen den Einfluss von franko-belgischen Zeichnern wie Hergé und Edgar P. Jacobs erkennen. In langen, ruhigen Einstellungen schaut die Kamera dem graubärtigen Künstler über die Schulter. Interviewpassagen aus dem Off vermitteln ein Gefühl für die großen Themen, die ihn umtreiben.

Neben dem zweiten Weltkrieg, der erst in den vergangenen Jahren verstärkt zu Tardis Thema wurde, und neben zahlreichen Adaptionen französischer Krimis und einem vierbändigen Epos zur Pariser Kommune lässt vor allem jener Krieg nicht los, dessen Beginn sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt. Der Erste Weltkrieg beschäftigt den Zeichner bereits seit Jahrzehnten, ebenfalls aus familiären Gründen: Sein Großvater saß im Kreuzfeuer in den Schützengräben von Verdun.

Durch dessen Erlebnisse angeregt, veröffentlichte Jaques Tardi bereits Anfang der 1980er Jahre die Erzählung „Der Granattrichter“, die zusammen mit einer umfangreicheren Erzählung zum Ersten Weltkrieg vor 20 Jahren in dem Album „Grabenkrieg“ erschien, das jetzt zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns neu aufgelegt wird, ebenso wie der zusammen mit dem Historiker Jean-Pierre Verney erarbeitete dokumentarische Comic „Elender Krieg“ von 2008. In schockierenden Bildern und ohne Pathos schildert Tardi den Krieg aus Sicht der einfachen Soldaten – inspiriert von „diesem Kerl, der nie davon sprach“, wie Tardi seinen Großvater im Dokumentarfilm nennt.

Familienerbe. Tardis Vater hielt seine Kriegserlebnisse mit Worten und auch in Skizzen fest, links eine davon. Rechts das Bild, das der Sohn auf dessen Grundlage für „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB"schuf.
Familienerbe. Tardis Vater hielt seine Kriegserlebnisse mit Worten und auch in Skizzen fest, links eine davon. Rechts das Bild, das der Sohn auf dessen Grundlage für „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB"schuf.

© Edition Moderne

Der Großvater kehrte 1918 von der Front zurück und schwieg fortan über das Erlebte. Von seiner Großmutter erfuhr Jacques Tardi später von den schrecklichen Dingen, die der Opa erlitten hatte. Etwa, wie er den Krieg in einem Granattrichter überlebte, neben einer verwesenden Leiche kauernd. „Derselbe Mann, der mich zur Schule brachte, war im Gaskrieg!“ Das ließ Tardi nicht mehr los, nachts verfolgten ihn Albträume. Fast manisch arbeitete er sich wieder und wieder durch die Geschichte des großen Gemetzels – auch um zu verstehen, wie aus einem ruhigen, sanften Mann wie seinem Großvater ein Mörder werden konnte.

Verstärkt wurde das Bedürfnis wohl auch durch die eigene Erfahrung der Militärzeit, die Jacques Tardi Ende der 1960er Jahre widerwillig absolvierte. „Das war vertane Zeit“, sagt er dazu später, „und nur zu einem gut: Die Unterdrückung kennen- und verachten lernen“.

„Formale Virtuosität und anarchische Kraft“

All das bestärkte den radikalen Pazifisten in seiner antimilitaristischen Einstellung. „Es gibt keine Helden und keine Hauptpersonen in dem beklagenswerten kollektiven Abenteuer, genannt Krieg“, schreibt Tardi im Vorwort zu „Grabenkrieg“. „Es gibt nur einen gigantischen, anonymen Aufschrei im Todeskampf.“ So stehen in seinen Arbeiten über die Jahre 1914-18 die erschöpften, ausgezehrten Männer im Vordergrund, die in den Schützengräben verheizt wurden – schlammverschmiert, verzweifelt, gebrochen: „Mein Interesse galt dem einfachen Mann gleich welcher Hautfarbe oder Staatangehörigkeit, dem Menschen, über den man verfügt, dessen Leben nichts zählt in den Händen seiner Herren.“

Öffentlichkeitsscheu: Selten lässt sich Tardi bei der Arbeit zuschauen, das macht den aktuellen Dokumentarfilm sehenswert.
Öffentlichkeitsscheu: Selten lässt sich Tardi bei der Arbeit zuschauen, das macht den aktuellen Dokumentarfilm sehenswert.

© Casterman

Mit der Ausstellung im Literarischen Colloquium Berlin (LCB), in der neben Drucken und Dokumenten zum neuen Buch auch ein paar Originale aus früheren Tardi-Werken zu sehen sind, gibt dessen neuer Direktor Florian Höllerer seinen Einstand am Wannsee. Er leitete zuvor das Literaturhaus Stuttgart, wo die Schau im vergangenen Jahr bereits zu sehen war. „Tardi lese ich seit vielen Jahren - mit jedem Band faszinierter davon, wie formale Virtuosität und anarchische Kraft ineinandergehen, immer ganz neu und zugleich immer ganz unverwechselbar“, sagt Höllerer.  Zwar sei das LCB kein klassischer Ausstellungsort - und solle auch keiner werden. „Und doch tut es auch Literaturveranstaltungen gut, wenn von Zeit zu Zeit die Kulissen verändert werden und der Saal kurz durchgerüttelt wird.“ Dafür sei die Kunstform Comic genau richtig, „Tardi zumal, der das Genre ja in seiner ganzen Größe vorführt“.

Die Ausstellung „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB" im Literarischen Colloquium Berlin wird am 15. Januar um 20 Uhr eröffnet (Am Sandwerder 5, 14109 Berlin). Dazu gibt es ein Gespräch mit FAZ-
Redakteur Andreas Platthaus, dem Kritiker Hansgeorg Herrmann und der Autorin Julia Schoch. Die Ausstellung läuft bis 4.4., ist vor und nach Abendveranstaltungen und nach telefonischer Anmeldung (030/8169960) zu sehen.

Der Film „Tardi schwarz auf weiß“ (50 Minuten, OmU) läuft ab 16. 1. in den Berliner Kinos Moviemento und Lichtblick. Mit Regisseur Pierre-André Sauvageot im Moviemento am 18.1., ( 20 Uhr), im Lichtblick am 19.1., 19 Uhr. Mit Einführung von Iris Paefke: LIchtblick, 21.1., 21 Uhr; Moviemento, 22.1., 19 Uhr.

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