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Nimmermüde. Jack Lang war Kulturminister unter Mitterand, heute leitet der das Pariser Institut du Monde Arabe.

© Ian Langsdon/dpa

Jack Lang zu Fête de la Musique: „Das Virus ist der Feind einer Kultur, wie ich sie liebe“

Die Fête de la Musique findet dieses Jahr per Livestream statt. Ein Gespräch mit Initiator Jack Lang über nationale Unterschiede und die Sehnsucht nach Nähe.

Monsieur Lang, in diesem Jahr feiert Berlin seine 25. Fête de la Musique. Bereits 1982 haben Sie die Fête in Frankreich, auf Anregung des amerikanischen Musikers Joel Cohen, als landesweites Ereignis ins Leben gerufen.
Es ging darum, alle Musikbegeisterten zu den Schöpfern dieses Ereignisses zu machen. Das ist also eine Sache der Basis: Jede Stadt, jeder Kiez, jedes Dorf macht da mit. Der 21. Juni, der längste Tag im Jahr, der Beginn des Sommers, wo man sich trifft und Frieden und Freundschaft feiert, die Jahreszeit der Liebe, der Reise ...

Jetzt ist daraus ein weltweites Ereignis geworden und ein Beispiel für eine glückliche Globalisierung, im Gegensatz zum weltweiten Leiden unter der gegenwärtigen Coronakrise. Die Bevölkerung hat sich diese Fête zu eigen gemacht, ja fast zu einem heiligen Moment weiterentwickelt. Ich freue mich sehr darüber, dass gerade die Veranstalter in Berlin daraus ein so bemerkenswertes Ereignis gemacht haben.

2020 heißt sie „Fête de la Haus-Musik“. Covid-19 zwingt uns zu einer eher häuslichen Musikpraxis, zu einer biedermeierlichen Form des Musikmachens.
Ich kann mir Kultur nicht vorstellen, ohne dass man sie mit anderen teilt, ohne Austausch, ohne diese kollektive Schwingung. Das Virus ist der Feind einer Kultur, wie ich sie liebe. Hoffentlich finden wir bald, mit Hilfe der Wissenschaftler, den Weg aus dieser Sackgasse. Einstweilen ist Erfindungsgeist gefragt.

Kurz bevor sich Emmanuel Macron Anfang Mai mit Kulturleuten traf, um die Zukunft der Branche zu entwerfen, haben Sie für den notleidenden Kulturbetrieb einen „New Deal“ gefordert. Vor Kurzem forderten Sie zusätzlich, dass für die Kultur drei Prozent der 100 Milliarden Konjunkturhilfen ausgegeben werden sollten.
Ja, dem ist man zu einem großen Teil gefolgt. Der Präsident hat da positive Entscheidungen getroffen, einige sind europaweit einmalig. Zum Beispiel die Berücksichtigung der coronabedingten Ausfallzeit für freie Künstler in der Arbeitslosenversicherung. Sie werden in den sozialen Netzen aufgefangen.

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Gleichzeitig geht es selbst auch den größten Kulturhäusern äußerst schlecht. Stéphane Lisner, der Chef der Opéra de Paris, sagte in einem Interview, nach den wochenlangen Streiks gegen die Rentenrefompläne und nach dem Corona-Shutdown, sei sein Haus am Boden. Einige nutzen in der französischen Debatte die gegenwärtige Situation, um einen Wechsel von der Hochkultur hin zu einer eher lokalen Kultur zu fordern. Droht das Ende der global vernetzten Glanzlichter?
Diese beiden Seiten der Kulturarbeit sind miteinander vereinbar. Die großen Häuser müssen ihr Qualitätsniveau halten. Die Regierungen müssen diese unersetzliche Kulturaufgabe ermöglichen. Hier bin ich ein entschiedener Internationalist.

Andererseits vergessen der Zentralstaat und seine Institutionen junge Talente, die bei uns in allen Regionen arbeiten. Oder Vereine, die sehr originelle Festivals ins Leben rufen. Man kann die Hochkultur fördern und zugleich im lokalen Bereich Chancen eröffnen für das Auftauchen junger Künstler, die der Humus sind für die Kulturszene von morgen.

Man hat nach den Protesten der „Gilets jaunes“, nach dem Streik gegen die Rentenreform im letzten Herbst, nach der in Frankreich heftig geführten Metoo-Debatte und nach den gegenwärtigen Protesten gegen Polizeigewalt und institutionellen Rassismus den Eindruck, dass die französische Gesellschaft, mehr als die Deutsche, in einem permanenten Aufruhr ist. Behauptet sich Frankreich da erneut als revolutionärer Vorreiter Europas?
Mich freut sehr, dass die Gesellschaft so lebendig ist. Nichts ist schlimmer als ein Land voller Untertanen. Während wir uns unterhalten, versammeln sich auf der Place de la République viele junge Leute, die gegen jede Form von Rassismus demonstrieren. Großartig! Schön! Schlimm wäre, wenn diese Jugend indifferent wäre. Auch wenn sie gelegentlich über das Ziel hinausschießt, ist sie doch Ausdruck einer vitalen Demokratie.

In Angela Merkels Deutschland sieht es vergleichsweise friedlich aus, wie Leben im Konsens. Wie kommt der Unterschied zustande?
Das hängt mit dem französischen, rebellischen Temperament zusammen. Das schreibt sich fort von Generation zu Generation. Das ist einerseits erfreulich, wirft aber auch die Frage nach der Struktur des politischen Systems auf: Sie stellen die Systemfrage Frankreich/Deutschland. Zu Recht.

In meinen Augen ist Deutschland die größte Demokratie in Europa. Dank seines Grundgesetzes und seiner politischen Institutionen ist es Deutschland gelungen, eine politische Kultur zu etablieren, die ich respektiere und bewundere. Demgegenüber ist das französische System zu vertikal und konzentriert zu viel Macht in der Hand weniger. Und das in allen möglichen Bereichen: auf nationaler und auf lokaler Ebene.

Bürgermeister sind Alleinherrscher, ganz so wie der Präsident auf nationaler Ebene. Es ergibt ein Land voller kleiner Napoleons. Diese Machtkonzentration in den Händen weniger ist einer der Gründe für diese permanente gesellschaftliche Reibung. Ein anderer ist die Blindheit der öffentlichen Institutionen den gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber.

Der Mai 1968 erklärt sich aus der Tatsache, dass die damalige Zentralmacht jeglichen Kontakt zur Jugend verloren hatte. Die fand für ihre tiefgreifenden Veränderungswünsche gar keine andere Möglichkeit mehr als Demonstration, Protest, Aufruhr.

Hat Deutschland eventuell einen gewissen Vorbildcharakter?
Ich bin Professor für internationales Recht und habe immer wieder gesagt: Zu viel Macht konzentriert sich in den Händen weniger. Demnächst wählen wir die Bürgermeister großer Städte. Die werden sechs Jahre an der Macht bleiben, zu lange. Im Vergleich dazu ist Deutschland in seiner ganzen Grundstruktur demokratischer.

Natürlich gibt es da auch soziale Ungleichheit, zu viel prekäre und schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse. Aber Madame Merkel hat ein Klima des Respekts geschaffen. Ich persönlich habe ihre viel kritisierte Entscheidung in der Flüchtlingskrise bewundert. Das war sehr mutig und sie hat damit die Ehre Europas gerettet. Frankreich ist zwar das Land der Revolution, aber das demokratische Ideal von 1789 ist in Deutschland am besten verwirklicht.

Ich persönlich würde mich freuen, wenn sich Deutschland wieder mehr der französischen Kultur öffnen würde. Nach den Achtzigerjahren, als Sie die Kulturlandschaft völlig neu aufgestellt haben, ist das Interesse deutscher Veranstalter an französischer Kultur stets zurückgegangen.
Ich befürchte, dass die angelsächsische Kultur in Deutschland eine größere Attraktivität besitzt. Mich freut, dass Frankreich ein gutes Gleichgewicht bei der Wahrnehmung der Kulturen des Südens, des Ostens, Westens und des Nordens gefunden hat, aber ich bedaure, dass die deutsche Sprache bei uns heute weniger unterrichtet wird als früher.

Die französische und die deutsche Jugend spricht heute perfekt Englisch, aber andere große Kultursprachen wie das Deutsche und das Französische verlieren in den europäischen Bildungsinstitutionen an Gewicht. Das ist keineswegs unvermeidlich, aber die Regierungen sind in dieser Frage zu passiv. Ich persönlich würde Mehrsprachigkeit sehr begrüßen.

Können wir einen Epochenwechsel verzeichnen? 1981 wurden Sie Mitterrands Kulturminister, 2020 sind Sie Chef des Institut du Monde Arabe. Dazwischen liegt eine ganze Ära. Welche Entwicklung hat sich vollzogen?
In den 1980er Jahren haben wir eine völlig neue Politik gemacht, die französische Kulturlandschaft umgekrempelt. Wir hatten die Chance, eine kleine Kulturrevolution auszulösen. Die damals gegründeten Institutionen sind geblieben, glücklicherweise. Deshalb hat die heutige Kulturlandschaft nichts mit der vor 1981 gemein.

Aber seit ungefähr 20 Jahren fehlt es der nationalen Kulturpolitik an Ehrgeiz, an Bereitschaft zu utopischen Entwürfen. Und Mittel wurden gestrichen. Genau deshalb habe ich zu einem „New Deal“ aufgefordert, zu einer Neuschöpfung einer Politik für die bildende Kunst, die Kultur, Wissenschaft.

Europa braucht nicht nur materielle Werte; wir brauchen Hoffnung, Spiritualität und eine Schule, die Kreativität und Imagination und den Sinn für die Schönheit fördert. Die verantwortlichen Kulturpolitiker bräuchten nur etwas mehr Begeisterungsfähigkeit.

Das Coronavirus hat uns voneinander getrennt, die Künstlerinnen und Künstler von ihrem Publikum, die Menschen voneinander, die Verbindung zwischen Ländern gekappt. Was muss als Erstes geschehen?
Keiner weiß, wie lange diese Epidemie uns noch daran hindert, uns zu treffen. Aber trotzdem wird es auch in Paris eine „Fête de la Musique“ geben. Keiner weiß, wie die aussehen wird, aber wenn das Wetter schön ist, wird keiner die Menschen daran hindern können, die „Fête de la Musique“ zu feiern. Die Sehnsucht, sich zu treffen, ist stärker als alles andere.

Eberhard Spreng

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