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Moritz Rinke, BE-Intendant Oliver Reese, „DasDas“-Leiter Mert Firat, eine Übersetzerin, sowie der Schauspieler Nico Holonics (Simon) und die Schauspielerin Stefanie Reinsperger (Grusche) beim Publikumsgespräch im Theater „DasDas“ auf der asiatischen Seite Istanbuls.

© Yücel Kurçun

Istanbul-Gastspiel des Berliner Ensemble: Berliner Theater am Bosporus

Beobachtungen in einem gespaltenen Land: Das Istanbul-Gastspiel des Berliner Ensembles mit dem „Kaukasischen Kreidekreis“.

Was für ein Anblick: Da steht Tilo Nest vom Berliner Ensemble als Richter Azdak auf einem Schemel, blutüberströmt – und spricht Recht. Es ist nicht sein eigenes Blut, ein Soldat hat es ihm übergeschüttet. Es ist das Blut der vielen anderen, die in Bertolt Brechts Drama „Der Kaukasische Kreidekreis“ gewaltsam sterben. Eine schillernde Figur ist dieser Azdak, ein Trinker ohne jede juristische Ausbildung, der in den Wirren des Krieges auf den Richterstuhl kam und jetzt Urteile fällt. Mal so, mal so, nicht selten zugunsten der Armen. Wenn die Reichen ihm nicht genug Schmiergeld zahlen.

Einer, der weder eindeutig gut noch böse ist. Hier entscheidet er richtig, spricht das umstrittene Kind nicht der leiblichen, sondern der liebenden Mutter zu. Und doch bleibt es ein Schiedsspruch aus dem Bauch heraus, eine Augenblickslaune, letztlich: Willkür. In Berlin gerät der Zuschauer beim Anblick so eines Richters ins Grübeln. Hier, in der Türkei, hält man die Luft an.

Was die Berliner Schaubühne im vergangenen November mit „Richard III.“ nicht wagte, das Berliner Ensemble hat es jetzt getan: Auf Gastspielreise zu gehen ins schwierige Land am Bosporus, beim Theater „DasDas“, weit im asiatischen Osten von Istanbul. Dessen Name klingt deutsch und ist doch türkisch. „DasDas“ bedeutet so viel wie: Wir verstehen uns, liegen auf einer Wellenlänge. Was der Dramatiker Moritz Rinke vom Berliner Ensemble sowie der Schauspieler und Theatergründer Mert Firat definitiv tun. Und das nicht nur, weil beide bereits ein Stück von Rinke in Istanbul herausgebracht haben. Firat kam im vergangenen Herbst nach Berlin, als Oliver Reese seine Intendanz am BE begann, mit dem „Kaukasischen Kreidekreis“. Reese ist jetzt auch in Istanbul dabei und erzählt: „Als die Einladung kam, war mir schnell klar: Das ist wichtig, das machen wir.“

Auch Kulturschaffende spüren Erdogans harten Kurs

Was man, angesichts der Fälle Peter Steudtner oder Deniz Yücel nicht unbedingt erwarten würde. Die Türkei ist heute ein Land, in dem seit dem Putschversuch von 2016 der Ausnahmezustand gilt, in dem die unabhängige Justiz bedroht und das Internet eingeschränkt wird und etwa Wikipedia als „zu westlich“ gesperrt ist. Präsident Erdogan fährt harte nationalistische Kampagnen gegen Kurden, Linke, Gülen-Anhänger, Europa. Und gegen Journalisten, von denen über 100 im Gefängnis sitzen, etwa Chefredakteur Ahmet Altan. Er wurde mit 67 Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt, an dem Tag, an dem Deniz Yücel freikam. Auch Kulturschaffende wie Mert Firat spüren das. Vor fünf Jahren hat er in einem Interview geäußert, eine Welt ohne Waffen sei wünschenswert – wenn wir alle so leben könnten wie in Island, nur von Fischen umgeben. Aber in einem Land mit der geopolitischen Lage der Türkei wäre das undenkbar. „Das Interview hat man jetzt wieder ausgegraben, aber ohne den letzten Satz“, erzählt er. „Man wirft mir vor, ich würde die Entwaffnung der Türkei fordern. Es gibt Hasskampagnen und Shitstorms gegen mich.“

Hass und sein Gegenteil prägen auch Brechts Stück. Grusche, die Hauptfigur, die das Kind vom Boden aufhebt, das zufällig der Thronfolger ist, wird von Stefanie Reinsperger mit epischen Zügen und einer irren, archaischen Mütterlichkeit gespielt, mit Augen, die tief in schwarzen Höhlen liegen, und mit Armen, die das Kind fest umklammern. Regisseur Michael Thalheimer hat die Bühne leer geräumt. Was zählt, ist die Geschichte, die reine Menschlichkeit. In der Schwärze leuchten türkische Übertitel, dazu erklingt die Stimme von Ingo Hülsmann als Sänger, der nicht wirklich singt, sondern das Geschehen kommentierend erzählt. Verglichen mit dem Schiffbauerdamm ist die Bühnentiefe hier viel geringer, Tilo Nest steht als Richter Azdak weit vorne, was seine Figur noch mehr aufwertet.

Dass ein Ensemble aus dem Ausland kommt, zählt viel

Man meint, in dem voll besetzten Saal mit rund 400 Plätzen Dankbarkeit zu spüren. Nicht nur wegen der Aufführung, auch wegen der Geste. Dass ein Ensemble aus dem Ausland kommt, zählt viel. Das Umfeld des Theaters ist eine Hochburg der oppositionellen sozialdemokratischen Partei CHP, deren Führer Kemal Kiliçdaroglu vergangenes Jahr mit dem „Gerechtigkeitsmarsch“ von Ankara nach Istanbul auch in Deutschland bekannt wurde. Das Publikum ist freundlich gesinnt. Tilo Nest aber wird am nächsten Tag erzählen: „Ich habe die ganze Zeit irgendwo ein rotes Licht gesehen. Wir wurden gefilmt. Von wem, mit welchen Absichten? Ich weiß es nicht.“

Nach dem Applaus eine Fragerunde mit den Schauspielern. Oliver Reese stellt das BE vor, erzählt, dass Brecht seine Intendanz 1954, zwei Jahre vor seinem Tod, mit dem „Kaukasischen Kreidekreis“ eröffnet hat, dass es das einzige Stück ist, das er dort je selbst inszenierte. Inwiefern sich das BE heute noch Brecht verpflichtet fühlt, will jemand wissen. „Er glaubte, dass Kunst die Welt verändern kann“, sagt Reese, „und diesen Glauben sollten wir nicht aufgeben.“

Der türkische Theatermacher Mert Firat diskutiert in Istanbul mit dem Berliner Dramatiker Moritz Rinke.
Der türkische Theatermacher Mert Firat diskutiert in Istanbul mit dem Berliner Dramatiker Moritz Rinke.

© Yücel Kurçun

Es bleibt Moritz Rinke überlassen, den Elefanten im Raum, die Gegenwart der Türkei 2018, anzusprechen. „Dies ist auch ein Stück über eine Frau mit Courage trotz Krieg und Hass, und deshalb ist es auch ein großes Stück für dieses Land.“ Bei Richter Azdak, badend in fremdem Blut, so Rinke, kämen einem sofort die abenteuerlichen Anklageschriften in den Sinn, „mit denen das sogenannte Rechtssystem der Türkei kritische Journalisten aus dem Weg räumt.“ Rinke selbst wurde vom Auswärtigen Amt in den letzten beiden Jahren nahegelegt, aufgrund seiner regierungskritischen Interviews und Reportagen besser nicht in die Türkei zu reisen. Dann erklärt er: „Grusche will sich ihren Humanismus bewahren und erfährt dadurch nur Nachteile. So wie die verhafteten Akademiker, die sich 2016 mit einer Petition gegen die Militäroperationen im südöstlichen Kurdengebiet wandten.“ Aber es gäbe sie noch, die „andere, zivilgesellschaftliche Türkei. Und es ist ein Wunder, dass dieses Theater einfach so und privat gebaut wurde, in diesen Zeiten.“

Das Theater "DasDas" eröffnete erst vor einem Jahr

Das „DasDas“ ist tatsächlich erst vor einem Jahr eröffnet worden, von Mert Firat und drei weiteren Künstlern, darunter dem Rockmusiker Harun Tekin, dessen Band Mor ve Ötesi die Türkei 2008 beim Eurovision Song Contest vertreten hat. Überall in den Foyers und auch im nahen Sheraton-Hotel leuchtet die Ankündigung des Gastspiels von den Wänden: Ein Foto von Stefanie Reinsperger als Grusche, dazu der Schriftzug „Kafkas Tebesir Dairesi“. Was nichts mit Franz Kafka zu tun hat, es ist einfach türkisch für „Der kaukasische Kreidekreis“.

Trotzdem ist die Fährte nicht ganz falsch. Ein Stück von Franz Kafka wird hier auch gespielt, der „Prozess“ nämlich. Mert Firat gestaltet die Figur Josef K. in Anspielung auf Hrant Dink, den türkisch-armenischen Journalisten, der 2007 von Nationalisten erschossen wurde. Auch Friedrich Dürrenmatts „Mitmacher“ steht auf dem Spielplan oder „Stück Plastik“ von Marius von Mayenburg, das 2015 an der Berliner Schaubühne uraufgeführt wurde.

Das Theater und das Einkaufszentrum, zu dem es gehört, sind Teil eines modernen Viertels mit Wohntürmen aus Stahl und Glas. Unvorstellbare 15 Millionen Einwohner müssen irgendwo hin. Istanbul ist heute das, was Berlin vor 100 Jahren war, nur viel dramatischer: Stadtentwicklung mit der Peitsche, die Kontraste sind knallhart. Eben noch Starbucks und Burger King, wenige Meter weiter der wilde Osten, die Reste der Welt, die vorher hier stand. Gackernde Hühner, Ziegen im Wohnhaus, Wäsche, die auf der Leitplanke trocknet, Frauen im traditionellen Kopftuch, die misstrauisch hin- oder bewusst wegschauen. Da und dort ein abgebranntes Haus, dessen Reste niemand wegräumt. Es ist eine Gecekondu-Siedlung, der Name bedeutet „über Nacht hingestellt“.

Am Horizont dräut das neue Istanbul

Kein wirkliches Elendsviertel. Eher das Gefühl: Hier ist die eigentliche Stadt. Manche Wohnhäuser sind mehrstöckig, erinnern ans Tel Aviver Bauhaus. Daneben spielen Kinder im Dreck. Kirschen, Oleander und Datteln blühen auf dem Müll. Ein bizarrer Anblick. Alte Männer halten die Gebetskette in der Hand, ihre traurigen Augen scheinen zu wissen, dass dieses Viertel nicht mehr Zukunft hat als sie selbst. Am Horizont dräut das neue Istanbul, auch das Sheraton-Hotel, wie eine feindliche Armee.

Türme mit Luxusapartments schießen aus dem Boden, die aussehen wie einem feuchten Traum des rumänischen Diktators Nicolae Ceausescu entsprungen. Eine staatlich verordnete Radikalgentrifizierung. Und auch das Theater „DasDas“ ist Teil dieser Entwicklung.

Empfang in der Wohnung von Reimar Volker, der das Goethe-Institut in Istanbul leitet und das Gastspiel des BE unterstützt. Der Blick von seinem Wohnzimmer geht weit übers Goldene Horn zum Herzen der Stadt, jener Halbinsel, die einst Konstantinopel war. Spaziergang zum Taksim-Platz, die Bäume im Gezi-Park im Nebel. Immerhin: sie stehen noch. An der Forderung, sie zu erhalten, hatten sich die Proteste 2013 entzündet. Daneben das Atatürk-Kulturzentrum, entkernt bis auf den Rohbau, es muss dem Neubau einer Oper weichen. Die Istiklal-Straße ist drängend voll und belebt, der Anschlag von 2016 scheint vergessen, wie auch der andere an der Blauen Moschee im gleichen Jahr. Touristen wuseln wie eh und je um den Obelisken des Theodosius. Gehauen im zweiten vorchristlichen Jahrtausend in Ägypten, stand er am Circus Maximus im Rom, wurde dann ins byzantinische Konstantinopel verfrachtet, jetzt umspült ihn mehrmals am Tag der Gesang des Muezzins. Wenn dieser Stein reden könnte.

Man braucht viel Mut, um zu seiner Meinung zu stehen

Dafür redet Meltem Cumbul. Oliver Reese hat sich mit der Filmschauspielerin getroffen, die in Fatih Akins „Gegen die Wand“ mitspielte. Sie lächelt unglaublich charmant, doch ihre Worte sprechen vom Gegenteil. „Die gesellschaftliche Balance in der Türkei ist zerbrochen“, erzählt sie. „Man muss sehr aufpassen, was man sagt. Wir haben indirekte Zensur.“ Die auch sie nicht verschont. Im letzten Herbst hat sie beim Adana Filmfestival moderiert und sich öffentlich geweigert, Regisseur Semih Kaplanoglu – der 2010 den Goldenen Bären der Berlinale gewann – die Hand zu geben. Weil der, wie sie sagt, der Regierung nahesteht und Gelder von ihr annimmt. Ein Eklat, der bis heute diskutiert wird. Meltem Cumbul wurde aus der Besetzung eines internationalen Filmprojekts gestrichen, weil die (westlichen) Produzenten Konsequenzen fürchteten.

„In der Türkei braucht man heute sehr viel Mut, zu seiner Meinung zu stehen“, resümiert Oliver Reese. Und gibt offen zu, dass er nicht weiß, ob er selbst diesen Mut aufbringen würde, in Deutschland. Wenn etwa in Thüringen oder anderswo die AfD den Ministerpräsidenten stellen und ihn zum Intendanten berufen würde. Am Nachbartisch liest Tilo Nest einen ausführlichen Artikel der „New York Times“ über die Theaterszene in Ungarn, wo immer mehr Häuser ausschließlich ungarische Stücke auf den Spielplan setzen müssen. Die nächste Gastspielreise des Berliner Ensembles mit dem „Kaukasischen Kreidekreis“ geht nach Budapest. Tilo Nest faltet die Zeitung zusammen und nimmt sie mit.

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