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Jiddischer Meistererzähler. Isaac Bashevis Singer 1989 in New York.

© picture-alliance / dpa

Isaac Bashevis Singer: Woher soll ich wissen, was Liebe ist

Erstmals auf Deutsch: Isaac Bashevis Singers grandioser Unterweltsroman „Jarmy und Keila“ erzählt von einem ungewöhnlichen Paar.

Was ist Liebe? Diese nicht nur die Literatur umtreibende Frage stellt sich Bunem, der Sohn eines streng orthodoxen Rabbiners. Das Konzept sei ihm nie klar geworden. Bunem ist eine zentrale Figur in Isaac Bashevis Singers packendem Unterwelts- und Emigrationsroman „Jarmy und Keila“. 1976/1977 erschien er zuerst in Fortsetzungen in der jiddisch-amerikanischen Tageszeitung „Forverts“. Eine englische Fassung entstammt dem Nachlass des polnischstämmigen Amerikaners (1902-1991), der 1978 als bisher einziger jiddischer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhielt. Jetzt liegt der Roman erstmals auf Deutsch vor. Ein Glücksfall (Isaac Bashevis Singer: Jarmy und Keila. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Christa Krüger. Jüdischer Verlag, Berlin 2019. 464 Seiten, 26 €).

Bunem, der ursprünglich in die Fußstapfen seines Vaters treten und Rabbiner werden wollte, ist ein zweifelnder, belesener, philosophisch veranlagter Kopf und gleichzeitig ein Getriebener, den seine sexuelle Obsession – gerichtet auf eine einzige Frau – beinahe um den Verstand bringt. Seine Frage nach dem „Konzept der Liebe“ berührt ein unterschwelliges Thema dieses ebenso düsteren wie humoristischen Werks, das trotz eines gelegentlich zutage tretenden Kolportage-Charakters über große Tiefe verfügt.

Gangster und Huren

Bunem denkt über die Liebe im Gespräch mit seiner früheren Verlobten Solcha nach, einer Anarchistin, die vorübergehend nach Sibirien verbannt war. Sie will von ihm wissen, ob er die einstige Prostituierte Keila liebt, die legendäre „rote Keila“, wie sie im jüdischen Armenviertel Warschaus aufgrund ihrer roten Haare auch genannt wird. „Ach, nein? Früher war es dir klar. Du hast mir gesagt, du würdest mich lieben“, entgegnet Solcha angesichts seiner Ratlosigkeit. „Ja“, antwortet wiederum Bunem, der zu dem Zeitpunkt bereits eine abenteuerliche Odyssee hinter sich hat und gemeinsam mit Keila von Warschau nach New York emigriert ist, „aber jetzt weiß ich nicht mehr genau, was Liebe ist“.

Die Handlung setzt ein im Jahr 1911. Der Schauplatz ist zunächst die Gegend rund um die Warschauer Krochmalna-Straße, in deren Kneipen Gangster, Huren und weiteres zwielichtiges Volk zusammenkommen. Das Viertel liefert mit seinem Schtetl-Charakter auch in anderen Texten Singers das Setting, zum Beispiel in „Die Familie Moschkat“ oder auch in „Eine Kindheit in Warschau“. Singer selbst lebte als Kind in der Krochmalna-Straße.

Liebe oder Wahnsinn?

Keila, neben Bunem die eigentliche Protagonistin, ist mit ihrem Zuhälter Jarmy verheiratet. Statt „Jarmy und Keila“ hätte der Roman auch „Bunem und Keila“ oder nur „Keila“ heißen können. Zu Beginn liebt Keila Jarmy noch, auch wenn er sich nicht groß daran stört, dass sie mitunter von einem seiner Freunde vergewaltigt wird. Einer dieser alten Bekannten ist Jarmys Knastbruder Max, mit dem er eine homoerotische Beziehung hatte.

Max will Jarmy nahe sein, gleichzeitig das große Geld machen und auswandern. Was das angeht, ist er nicht der Einzige: Armut und die Angst vor Pogromen schwingen immer mit. Keila soll als Erbschleicherin tätig werden – ein Plan, der schiefläuft – oder junge Mädchen anwerben, die in südamerikanischen Bordellen arbeiten sollen. Selber allem Anschein zum Trotz sehr gläubig, leidet sie darunter, in Sünde zu leben, ist aber nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf zu ziehen. Während eines Bußgangs zum Rabbiner begegnet ihr dessen Sohn Bunem, ein Lichtblick in ihrem Sodom und Gomorrha, und die eigentliche Geschichte beginnt, in deren Verlauf die beiden schließlich als Paar in New York landen – vom Regen in die Traufe.

„Ist das Liebe? Wahnsinn?“, fragt sich Bunem irgendwann, als es bereits zu spät ist. „War es denn möglich, dass man sich in eine Hure verliebte, die jeder für ein paar Kopeken haben konnte? Wenn ja, dann war alles, was in den Romanen stand, eine einzige Lüge.“ So gesehen ist Singers Roman womöglich auch ein Beitrag dazu, ein Missverständnis innerhalb der Literaturgeschichte geradezurücken.

Tobias Schwartz

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