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Timothy Garton Ash, 55, ist Historiker und Essayist.

© dpa

Interview: Timothy Garton Ash: "Ich frage mich: Sind die USA reformierbar?"

Der Historiker und Essayist Timothy Garton Ash sieht Holocaust-Leugner und Islamisten nicht als Riesenproblem. Und er freut sich über die kulturelle Wiedergeburt Berlins.

Herr Garton Ash, in Ihrem neuen Buch blicken Sie auf die weltpolitischen Entwicklungen in den Jahren 2000 bis 2010 zurück. Was werden Kinder der Zukunft über dieses Jahrzehnt im Unterricht lernen?

Ich vermute, die vergangenen zehn Jahre werden in die Geschichte eingehen als das verspielte Jahrzehnt für die Vereinigten Staaten. Wir müssen uns daran erinnern, wie die USA im Jahr 2000 dastanden: Sie waren eine Hypermacht, das neue Rom. Diese Überfülle an wirtschaftlicher und militärischer Macht haben sie verschwendet. Im Irakkrieg, mit Pumpkapitalismus und Verschuldung. Und wir Europäer sollten darüber keine Schadenfreude empfinden, denn die Schwäche Amerikas trifft auch uns. Heute können wir den Aufstieg der nichtwestlichen Welt erkennen, und zwar viel deutlicher als vor zehn Jahren.

Besonders China ist gestärkt aus der Finanz- und Wirtschaftskrise hervorgegangen.
Die Renaissance Asiens, das ist die eigentliche Jahrhundertwende! Seit 200 Jahren haben wir im Westen Reichtum und Macht genossen, nun scheint es anderswo eine alternative Modernität zu geben. Für weniger bedeutsam halte ich den Kampf gegen den gewalttätigen Islamismus. Der bleibt natürlich eine ernsthafte Herausforderung, doch ich glaube nicht, dass künftige Historiker sagen werden: Das ist das Entscheidende an diesem Jahrzehnt. In Großbritannien haben wir 30 Jahre lang mit den Bombenattentaten der IRA gelebt. Das war alles andere als angenehm, aber kein permanenter Kriegszustand.

Auch die Türkei hat seit 2000 einen unwahrscheinlichen Boom und Aufstieg erlebt.
Es gibt noch einiges zu tun, bis der europäische Standard erreicht ist. Wenn die Türkei die Bedingungen allerdings voll erfüllt, einschließlich der Menschenrechte, der Redefreiheit, der Gleichberechtigung der Frau, bin ich unbedingt für einen EU-Beitritt. Weil wir das seit mehr als 40 Jahren versprochen haben. Und weil das ein starkes, positives Signal in die muslimische Welt aussenden würde. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, Europa verstehe sich als christlicher Klub.

Das Erste, was auffällt, wenn man sich mit Ihnen unterhält, ist Ihr perfektes Deutsch.
Ich muss mich zu einer langjährigen Liebesaffäre bekennen – einer Affäre mit der deutschen Sprache. Diese Sprache ist für mich wie eine riesige Orgel, mit unglaublich unterschiedlichen Tönen. Ich habe Deutsch gelernt, bevor ich zur Universität ging, im Goethe-Institut in Prien am Chiemsee.

Wie kamen Sie als Junge aus dem Süden Englands denn bloß dazu?
Ich hatte gute Lehrer, die mich zum Beispiel mit Thomas Mann vertraut machten. Über Mann, Schiller, Brecht und Tucholsky, den ich ganz besonders liebe, bin ich zur deutschen Geschichte gekommen und über die nach Berlin.

1978 ließen Sie sich im Westteil nieder, spazierten in der Tweedjacke durch die Straßen und arbeiteten in Archiven und Bibliotheken an Ihrer Promotion. Thema: das Dritte Reich. Die Briten scheinen fast besessen zu sein von der Nazi-Zeit.
Der Zweite Weltkrieg ist in Großbritannien ein großer, positiver Mythos. Auch in meiner Familie war das so. Mein Vater ist im Krieg Soldat gewesen, am D-Day landete er mit den ersten Stoßtruppen und kämpfte sich bis nach Deutschland durch. Dafür hat er später eine Auszeichnung bekommen. Aber als ich ihm sagte, dass ich am Goethe-Institut lernen möchte, erwiderte er sofort: Na klar, geh’ hin, wir bezahlen das. Für mich ging die Faszination für Deutschland von der Weimarer Frage aus: Wie ist dieses dichte Nebeneinander vom Allerbesten der europäischen Kultur, Goethe, und dem Allerschlimmsten, Buchenwald, zu erklären? Wie konnte es passieren, dass eine so hohe Zivilisation plötzlich der Barbarei verfällt?

Haben Sie eine Antwort gefunden?
Sehr wichtig scheint mir, dass Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Sauberkeit oder Pflichterfüllung überbewertet wurden, als Primärtugenden galten. Und das ist für mich eine Lehre, die auch heute Bedeutung hat. Zum Beispiel im Umgang mit dem Islam. Wir unterscheiden nicht klar genug zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem. Auf dem Gebiet der Primärtugenden, wenn es um die Menschenwürde oder die Redefreiheit geht, dürfen wir keine Kompromisse machen. Bei dem, was sekundär ist, etwa wie man sich kleidet, darf und soll man tolerant sein.

Volle Redefreiheit für alle – selbst, wenn jemand den Holocaust leugnet?
Als man die Holocaust-Leugnung einst verbot, gab es begründete Ängste, Rechtsextreme könnten das Thema mit Erfolg propagandistisch nutzen. Aber im Deutschland des Jahres 2010? Ich verstehe, wenn ein Muslim das als Heuchelei empfindet, wenn er sagt: Ihr schützt per Gesetz, was euch heilig ist, doch das, was wir als heilig erachten, etwa das Verbot der Abbildung Mohammeds, das ist ein freies Feld. Wir stehen am Scheideweg: Entweder wir vermehren die Tabus, einschließlich unserer eigenen, oder wir haben wirklich eine offene, hoffentlich zivilisierte Diskussion. Das Multikulti-Prinzip – ich respektiere dein Tabu, du respektierst meins –, ist für mich der Weg in die Hölle. Denn wenn Sie alle Tabus der Welt zusammenbringen, bleibt am Ende wenig, worüber man noch diskutieren kann.

Das Berlin der 70er Jahre: Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie daran zurückdenken?
Den Potsdamer Platz, die Mauer. Damals war der Weltgeist in Berlin: an einem Ende der Friedrichstraße der ganze Osten, am anderen der ganze Westen. West-Berliner lebten ja meist mit dem Rücken zur Mauer, die blickten eher in die Toskana und nach Kalifornien als nach Thüringen, geschweige denn nach Polen. Ich bin gleich nach Ost-Berlin und Osteuropa aufgebrochen. Ich weiß nicht, wie oft ich durch diese alte Kabine am Checkpoint Charlie gegangen bin! Zu Hause habe ich noch mindestens fünf britische Pässe voll mit Stempeln.

In einem Ihrer Bücher beschreiben Sie den Ost-Berliner Geruch: „Eine Mischung aus dem Rauch nicht ganz verbrannter Briketts aus den altmodischen Kohleöfen, den Abgasen aus Zweitaktmotoren der kleinen Trabis, billigen osteuropäischen Zigaretten, feuchten Stiefeln und Schweiß.“ Klingt nicht so, als hätte es Ihnen besonders gefallen.
Gerade im Winter, mit dem kalten Ostwind, da war Ost-Berlin schon … Wie heißt es bei Brecht? Deutschland, bleiche Mutter. Man liest in Tagebüchern oder Reportagen ja meist nur, wie etwas aussieht, dabei sind Gerüche starke und wichtige Sinneseindrücke. Erst gestern erzählte mir meine Frau, die aus Polen stammt, von dem Geruch, der sie überwältigte, als sie damals nach West-Berlin kam: sauber, süß, irgendwie reich und fett.

Welche Unterschiede haben Sie bemerkt zwischen Ostlern und Westlern?
Ich hatte wirklich den Eindruck, dass die Leute in der DDR gebückt liefen, nicht wie freie Menschen. Aber ich habe schnell enge Freundschaften geschlossen in Ost-Berlin, in Thüringen und Sachsen, und im privaten Rahmen war es völlig anders, da fand man den Geist des alten, bildungsstarken Deutschlands: Eine tiefe Beziehung zum Protestantismus, zur Musik, zur deutschen Literatur, wie es sie viel seltener in Westdeutschland gab.

Uwe Tellkamp hat diese Atmosphäre eines seltsam konservierten Bildungsbürgertums in seinem Roman „Der Turm“ beschrieben.
Der Osten war eben stark vom Rest der Welt abgeschnitten und außerdem viel weniger sowjetisiert als der Westen amerikanisiert.

In „Jahrhundertwende“ schwärmen Sie bei aller Kritik an dem Regime von der „Schönheit der Rückständigkeit“ in Birma – ähnlich dem „bittersüßen Charme“, den Sie früher in kommunistischen Staaten vorfanden. Vermissen Sie die DDR manchmal?
Ganz sicher nicht. Ich finde es einfach bedauerlich, dass die Verschiedenheit der Lebensformen und Kulturen überall hinweggefegt wird von der Uniformität des modernen Kapitalismus und von westlichen Verhaltensweisen. Schon Karl Marx hat festgestellt: Die wirklich revolutionäre Kraft, das ist der Kapitalismus. Er fragt erst danach, was die Menschen wollen, gibt es ihnen – und sorgt dann dafür, dass sie noch mehr wollen.

Woran machen Sie diese Kraft fest?
Nehmen wir das polnische Fernsehen. Da bekommt man jetzt auch Reklame mit unglaublich gesunden, gut aussehenden Männern und Frauen, die den Eindruck vermitteln, dass man glücklich wird und jeden Tag mindestens drei Mal Sex hat, wenn man etwas Bestimmtes kauft. Ganz neue Wörter mussten erfunden werden, die furchtbar künstlich klingen: Eine Geschäftsfrau zum Beispiel heißt „biznesmanka“. Die vielschichtige Welt der mitteleuropäischen Intelligenzia, die für mich in den 70er und 80er Jahren sehr wichtig war, ist stark abgeschwächt. Früher genossen tschechische Schriftsteller Weltruhm, und was hört man heute noch aus Prag? Aber das ist sozusagen der Preis der Freiheit.

Anfang der 80er lebten Sie sogar in Ost-Berlin, die Stasi hielt Sie für einen Spion. Waren Sie mal wieder in Ihrer alten Wohnung in Prenzlauer Berg?
Nein, obwohl ich jedes Jahr mindestens ein, zwei Mal in Berlin bin. Damals, 1980, war die Gegend natürlich überhaupt nicht schick, heute sieht es da aus wie in Chelsea. Mir gefällt Berlins kulturelle Wiedergeburt. Ich habe mir in den 70er Jahren einen Berlin-Führer von Baedeker aus dem Jahr 1923 gekauft. Damals schien das völlig absurd, heute kann ich ihn gut gebrauchen.

Seit Ihren Erfahrungen in Osteuropa ist der Übergang von der Diktatur zur Demokratie Ihr großes Thema. Wie sehen Sie die Chancen für einen demokratischen Wandel in China?
Man muss sehr aufpassen, dass man nicht den letzten oder vorletzten Krieg führt. Will sagen: Man kann das Bild vom kommunistischen System in Osteuropa nicht einfach auf China übertragen. Ich war sehr dafür, dass Liu Xiaobo den Nobelpreis erhält …

… am Freitag wurde der chinesische Dissident in Abwesenheit in Oslo ausgezeichnet …
… aber es ist unwahrscheinlich, dass er eines Tages so wie Vaclav Havel Präsident wird. Erstens hat China etwas Neues erfunden, nämlich den leninistischen Kapitalismus. Und zweitens hat die Führung eine nationale Legitimation, die den Herrschern in Osteuropa völlig fehlte.

Den Ländern dort wurde der Kommunismus von einer fremden Macht übergestülpt. In China verbindet man Maos KP dagegen auch mit der Einheit und Unabhängigkeit des Landes, dem Abschütteln des Kolonialismus.
Ich bin oft in Peking, rede mit jungen Leuten an den Universitäten. Mir fällt auf, dass sie zwar kritisch sind, aber auch stolz auf ihr Land und ihre Regierung. Ich glaube nicht, dass der Wandel in China in Gestalt einer Solidarnosc-Bewegung kommt, eher schon durch einen zunehmenden, gewachsenen Pluralismus in der Gesellschaft, durch mehr Rechtsstaat, mehr Offenheit in den Medien. Wir sollten ruhig hingucken und unterstützen, was in die richtige Richtung geht.

Die USA haben sich bei den Chinesen stark verschuldet. Ist das ein wirksames Druckmittel für Peking?
Wie zu Zeiten des Kalten Krieges gibt es eher eine Art Gleichgewicht des Schreckens. Denn die Chinesen sind umgekehrt stark darauf angewiesen, dass die Amerikaner ihre Produkte kaufen.

Wegen der gegenseitigen Abhängigkeit spricht man schon von „Chimerica“.
Andererseits waren die europäischen Nationen vor 1914 wirtschaftlich auch sehr eng miteinander verflochten. Den Ersten Weltkrieg hat das nicht verhindern können. In der Geschichte kam es immer zu gewalttätigen Konflikten, wenn eine absinkende und eine aufstrebende Großmacht aufeinandertrafen. Die einzige friedliche Ausnahme war der hegemoniale Übergang von Großbritannien zu den USA im 20. Jahrhundert. Doch die beiden Länder verband eine gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte. Bei Amerika und China ist genau das Gegenteil der Fall: Hier treffen zwei völlig unterschiedliche Traditionen aufeinander.

Sie prophezeien einen Krieg?
Nicht unbedingt einen großen chinesisch-amerikanischen Krieg, doch kleinere Auseinandersetzungen in Asien sind nicht auszuschließen. Ähnlich wie sich im Europa des 19. Jahrhunderts Allianzen ausbildeten, so werden sich die USA wahrscheinlich mit Japan und Indien verbünden, um China einzudämmen. Zum Teil tun sie das ja schon.

Indien gilt oft als erfolgreiches Gegenmodell zu China. Die „Commonwealth Games“ im Oktober in Delhi jedoch wären fast zu einer Katastrophe geworden: Athleten klagten über Müll, ekelhafte Toiletten und unsichere Elektrik, Brücken stürzten wegen Baupfuschs ein. Der Korrespondent der „Zeit“ berichtete von den grauenhaften Bedingungen der Bauarbeiter und schrieb: „Noch weniger als in China kommt das Wachstum den Massen zugute.“
Indien ist die größte Demokratie der Welt, ein sehr vitales, kreatives Land. Und es hat, mit mehr als einer Milliarde Menschen, enorme wirtschaftliche Potenz. Doch es fehlt der Wille zur Macht. Indien weiß nicht, was es will. China dagegen weiß das ganz genau: reich und mächtig werden.

Der Abgesang auf Amerika scheint gerade en vogue zu sein. Ihren Historikerkollegen, den renommierten Osteuropaexperten Karl Schlögel, erinnert Barack Obama sogar an Gorbatschow: „Gorbatschows Projekt ist gescheitert. Ein gleiches Schicksal kann auch Obama ereilen.“
Amerika wird nicht zusammenbrechen wie das sowjetische Imperium, das ist klar. Aber so wie wir uns damals gefragt haben, ob der Sozialismus reformierbar ist, so stellt sich heute die Frage: Sind die USA reformierbar? Ich war gerade drei Monate in Amerika, in Stanford, Washington und New York, und die Dysfunktionalität des politischen Systems ist offensichtlich.

Was meinen Sie genau?
Es ist extrem schwierig für den Präsidenten, eine Reformpolitik im Kongress durchzusetzen – vor allem wegen der verheerenden Rolle, die das Geld in der amerikanischen Politik spielt. Um als Abgeordneter im House of Representatives alle zwei Jahre wiedergewählt zu werden, brauchen Sie mindestens anderthalb Millionen Dollar. Jedes Mal. Das bedeutet, dass Sie unglaublich abhängig sind von Lobbys und geschäftlichen Interessen. Und das gilt für den ganzen Kongress, das Geld schreit geradezu durch die amerikanische Politik. Natürlich wird über dieses Problem diskutiert. Aber es passiert nichts. Das kennen wir aus der Geschichte anderer Großmächte und Imperien: Wenn man die Nummer eins ist, zögert man. Und so zieht sich das hin, während eine Reform immer schwieriger wird.

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Timothy Garton Ash, 55, ist Historiker und Essayist. Der Brite gilt als einer der besten Kenner Osteuropas und beschäftigt sich vor allem mit der jüngeren Vergangenheit. Er lehrt in Oxford. Im Hanser-Verlag erschien von ihm vor kurzem „Jahrhundertwende“.

Die Fragen stellte Björn Rosen

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