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Flammender Protest. Brennende Barrikaden gegen Präsident Maduro in Caracas.

© REUTERS

Interview mit venezolanischer Autorin: „Gewalt ist unser Alltag“

Schriftstellerin Karina Sainz Borgo flüchtete aus Venezuela. Ihr Roman „Nacht in Caracas“ erzählt von Schuldgefühlen und dem Chaos im Land. Ein Gespräch.

Karina Sainz Borgo wurde 1982 in Venezuelas Hauptstadt Caracas geboren. Sie ist Journalistin und verließ ihr Land im Jahr 2006. Seitdem lebt die Autorin in Madrid. Nacht in Caracas ist ihr erster Roman. Er handelt vom Schicksal der jungen Venezolanerin Adelaida Falcón. Erst stirbt ihre Mutter, deren Beerdigung für die Tochter ein lebensgefährliches Unterfangen ist. Dann wird sie aus der gemeinsamen Wohnung vertrieben. Um sie herum herrschen Chaos und Elend. Der Roman wurde aus dem Spanischen von Susanne Lange übersetzt und ist im S. Fischer Verlag erschienen. Er hat 224 Seiten und kostet 21 Euro.

Frau Sainz Borgo, viele Szenen in Ihrem Roman „Nacht in Caracas“ gleichen einem Bürgerkrieg, obwohl es eigentlich keinen Krieg in Venezuela gibt. Oder täuschen wir uns?
Venezuela ist eine Diktatur. Es ist wegen der Armut und den sozialen Unterschieden ein sehr gewalttätiges Land mit gewalttätigen Lebensumständen, die einem das Gefühl vermitteln, man befände sich im Krieg – weil allein schon jeder zusehen muss, dass er lebendig nach Hause kommt.

Ihre 38 Jahre alte Heldin Adelaida erinnert sich im Roman an ihren zehnten Geburtstag, an dem es massive Plünderungen gab. Kann man vor dem Hintergrund der aktuellen Krise von einer Art Kontinuität in der Geschichte Venezuelas sprechen?
Ja, das muss man. Ich nenne zwar keine Daten oder Namen, aber wenn man Adelaidas Leben von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter folgt, merkt man, dass die Gewalt immer an der Tür klopft. Meine Leserinnen sollen verstehen, dass das alles nicht von heute auf morgen geschah, sondern ein langer Prozess war, der teilweise das ganze Leben der Menschen betrifft. Ich porträtiere mit dem Roman eine Gesellschaft, in der die Demokratie von jeher schwach und bedroht gewesen ist, in der Gewalt zum Alltag gehört.

Von den venezolanischen Politikern wird in Ihrem Roman keiner beim Namen genannt, Sie bleiben bei der Bezeichnung „Comandante Presidente“. Warum?
Weil es eine Metapher ist. Das ist kein dystopischer Roman, er gebraucht Allegorien und Metaphern. Ich verwende diese Stilmittel, weil ich wirklich in jeder Hinsicht ein literarisches Buch schreiben wollte.

Frauen haben eine große Bedeutung in Ihrem Roman. Diejenigen, die auf der Seite der Revolution stehen, werden als besonders grausam geschildert. Warum?
Frauen spielen eine wichtige Rolle in der venezolanischen Gesellschaft. Ich bezeichne sie als madricentrica, mit der Mutter im Mittelpunkt. In einem armen Land haben Frauen einen speziellen Sinn dafür, zu überleben. Mit dem neuen Feminismus hat das übrigens nichts zu tun.

Der einzig relevante Mann im Roman ist der Student Santiago …
Santiago ist fast noch ein Kind, der kleine Bruder, auf den die Familie besonders aufpasst. Jeder erwartet von ihm, dem Genie, dass er groß rauskommt. Er ist derjenige mit dem schlimmsten Schicksal. Er ist die Zukunft, die von diesem gewalttätigen Präsidenten ausgelöscht wird.

Poesie und Wahrheit. Schriftstellerin Karina Sainz Borgo erzählt von einer Gesellschaft am Abgrund.
Poesie und Wahrheit. Schriftstellerin Karina Sainz Borgo erzählt von einer Gesellschaft am Abgrund.

© S. Fischer

Die von Santiago beschriebene Folter – wie nah ist sie an der Realität?
Vieles ist von Menschenrechtsorganisationen dokumentiert. Ich habe nie gesehen, wie jemand gefoltert wurde, aber als Journalistin habe ich Informationen. Auf wahren Fällen basieren Aussagen von Studenten, die im Gefängnis waren. Sie erzählten, wie sie mit Stöcken geschlagen wurden – so, dass die Wunden nicht sichtbar waren – , wie sie in Isolationshaft saßen und mit den Händen essen mussten.

An einer Stelle bezeichnen Sie Francisco de Miranda als „den einzig wirklich liberalen Helden unseres Unabhängigkeitskriegs“. Was meinen Sie damit?
In der Geschichte Venezuelas haben wir einen sehr polemischen Helden: Simón Bolívar. Während der Unabhängigkeitskriege bezeichnete er sich als den Liberador, den Befreier. Er ist allerdings sehr widersprüchlich, da er Militär war, Sohn von Spaniern und der Elite angehörte. Er war ein Populist. Francisco de Miranda hingegen war zwar ebenfalls Militär, schließlich sprechen wir vom 19. Jahrhundert, aber auch ein echter Intellektueller. Ich verstehe nicht, warum in Venezuela der eine gegenüber dem anderen bevorzugt wird. Ich denke, das ist eins der Probleme unserer Gesellschaft: Wir wählen den starken Mann, diesen Caudillo.

Ihre Heldin Adelaida ist Lektorin und erwähnt mehrere Autoren und Romane, Sie selbst sind Journalistin, Bloggerin und Autorin. Welche Rolle spielt die Literatur – kann sie die Gesellschaft retten?
Ja, das glaube ich. Literatur schützt vor Unwissenheit. Gerade wenn etwas Schreckliches geschieht muss man berichten. Ich denke, ich würde vieles von der deutschen Geschichte nicht verstehen, hätte ich zum Beispiel Anne Franks Tagebücher nicht gelesen. Ich komme aus einer Gesellschaft, in der Unwissenheit verbreitet ist. Ich glaube, dass ein modernes demokratisches Land auf Bildung und Literatur basiert.

Sie sind 2006 nach Spanien emigriert, als Hugo Chávez noch am Leben war. Warum?
Chávez war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Ich erkannte mein Land nicht mehr, und das Land erkannte mich nicht. Ich hatte das Gefühl, dass all meine Bemühungen umsonst waren. Wie soll ich Kulturjournalismus in einem Land machen, in dem keiner liest und jeder einem Diktator applaudiert?

Ist die Emigration einer der Gründe, aus denen Sie nicht „die Stimme Venezuelas“ genannt werden möchten?
Ja, sie ist einer davon. Ich bin Venezolanerin, aber ich möchte schreiben können. Das bedeutet nicht, dass mir mein Land gleichgültig wäre. Nur habe ich im Moment das Gefühl, dass ich außerhalb des Landes mehr von Nutzen bin. Wenn das alles vorbei ist, möchte ich gerne zurück und vielleicht eine Zeitung gründen.

Wie viel Autobiografisches steckt in Ihrem Roman?
In dem Buch habe ich persönliche Erfahrungen verarbeitet. Aber wirklich autobiografisch sind die Obsessionen von Adelaida. Sie fühlt sich schuldig, dass sie geflohen ist. Ich habe das geschrieben, um meine Gefühle zu meinem Land zu sortieren, weil ich mich wie ein Feigling fühlte und immer noch fühle. Ich meine, wir sitzen hier an diesem schönen Tisch in einem schönen Bezirk, Prenzlauer Berg – das ist ein Konflikt für mich. Aber auch das ist eine Form von Gewalt.

An einer Stelle heißt es: „Einerlei, ob Geld da war oder nicht, einerlei, ob das Land in Stücke fiel: auf Teufel komm raus musste verschönert, eine Krone angestrebt, eine Königin ernannt werden.“ Welche Bedeutung hat diese Neurose für Venezuela?
Das ist eine Metapher dafür, wie eine Gesellschaft zu denken vergisst, wie sie sich zerstört. Sich als kosmetische Gesellschaft zu gerieren, ist eine Möglichkeit, soziale Probleme zu ignorieren.

In der aktuellen Rangliste von Reporter ohne Grenzen steht Venezuela auf Platz 148 von 180. Wie bewerten Sie als Journalistin die Situation der Pressefreiheit?
Sie existiert nicht. In Venezuela gibt es keine freie Presse. Wenn du informieren möchtest, hast du zwei Möglichkeiten: Du wirst eingesperrt oder du fliehst. Die brillantesten Journalisten meines Landes leben in Kolumbien, wo sie noch nah genug dran sind, um Informationen zu bekommen.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien?
Es ist fundamental. Was zwei Straßen weiter geschieht, erfährst du nur über das Internet. Es ist langsam, aber es funktioniert noch. Einmal sah ich auf Twitter ein Video und erkannte das Haus meiner Schwester. Ich rief sie an und fragte, was gerade geschieht. Sie sagte, es gebe eine riesige Demonstration, sie bekäme wegen des Tränengases keine Luft. Und ich erfuhr darüber via Twitter.

Es gibt eine massive Inflation in Venezuela. Was bedeutet das für die Menschen?
Auf dem Schwarzmarkt wird hauptsächlich mit Dollar gezahlt. Ist das revolutionär? Gegen den Kapitalismus? Die Leute verbrennen unsere Währung, weil sie nichts mehr wert ist. In einigen Teilen des Landes gibt es Tauschhandel, aber auch mit Bitcoins wird bezahlt.

Wie reagieren Venezolaner auf Ihren Roman?
Nur wenige haben ihn gelesen; ein paar haben ihn für Kindle gekauft und mit Bitcoins bezahlt. Eine Person schrieb auf Twitter, sie lese das Buch und könne nicht aufhören zu weinen. Eine andere fragte daraufhin: Wo hast du das Buch her? Wie hast du es bekommen? Welche Währung hast du dafür verwendet? Und die erste Person realisierte dann, dass es ein Fehler gewesen war, das zu sagen.

Gibt es für Venezuela mit Nicolás Maduro oder Juan Guaidó überhaupt eine Möglichkeit, sich aus dieser Krise zu befreien?
Der Präsident von Venezuela wurde in einem sehr dunklen Prozess ohne internationale Beobachtung gewählt. Er ist keine demokratische Person, ihm sind die Menschen egal. Dann gibt es mit Guaidó den Präsidenten des Parlaments. Er bezeichnet sich nicht als Präsident Venezuelas, sondern benennt die humanitäre Krise und fordert Neuwahlen. All das ist schwer zu verstehen, weil nicht-demokratische Länder schwer zu verstehen sind. Das ist der Grund, warum freie Medien so wichtig sind. Um ein Gesamtbild zu erhalten. Was für mich die Lösung wäre? Legale und freie Wahlen abhalten und das Volk entscheiden lassen.

Isabella Caldart

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