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Simon Rattle

© picture alliance / dpa

Interview mit Simon Rattle: „Ich brauche eine Musikfamilie“

Was wird Simon Rattle nach seiner Zeit als Philharmoniker-Chefdirigent machen? Wie entstand seine große Liebe zur Musik des Komponisten Leoš Janácek? Kann man auch im Alter noch Genie entwickeln? Der britische Dirigent im Gespräch.

Sir Simon, am heutigen Samstag dirigieren Sie die Premiere von „Katja Kabanova“ im Schillertheater. Wann haben Sie den Komponisten Leoš Janácek für sich entdeckt?

Oh, da war ich noch ein Teenager. Ich hörte mit Begeisterung die Aufnahmen von Charles Mackerras. Ich hatte das Glück, in einer Zeit aufzuwachsen, als sich zwei Komponisten, die mir besonders am Herzen liegen, endlich im Musikbetrieb durchsetzten, nämlich Gustav Mahler und Leoš Janácek.

Janáceks „Das schlaue Füchslein“ wurde zu einem Schlüsselwerk für Ihre Karriere.

Als Student war ich bei einer Inszenierung an der Royal Academy of Music in London dabei, das „Füchslein“ war die erste Oper, die ich beim Glyndebourne Festival dirigierte, und 1990 auch mein Debüt-Stück am Königlichen Opernhaus von Covent Garden. Das von meinem Sohn Sascha übrigens auch. Er war damals sechs und sang eine der Kinderrollen. Ein schönes Erlebnis, gemeinsam mit der U-Bahn zur Arbeit zu fahren.

Heute ist es üblich, Janámek auf Tschechisch zu spielen. Wie war es damals?

Es wurde selbstverständlich die englische Übersetzung gesungen! Bis in die achtziger Jahre hinein erschien es geradezu absurd, die Originalsprache zu verwenden. Ich konnte mich ja später auf besondere Weise dem Tschechischen nähern ...

... durch ihre Ehefrau Magdalena Kožená. Haben Sie mit ihr jetzt auch „Katja Kabanova“ vorbereitet?

Diesmal nicht, weil sie mit eigenen Projekten ausgelastet ist. Aber wir haben das bei früheren Janámek-Produktionen gemacht, beispielsweise als ich für die Staatsoper „Aus einem Totenhaus“ vorbereitete, in der Inszenierung von Patrice Chéreau. Sehr viele Erkenntnisse über Janácek aber habe ich auch dem schon erwähnten Charles Mackerras zu verdanken. Ich hatte zwar nie eine Fahrstunde durch „Katja Kabanova“, aber durfte einen ganzen Tag mit ihm über der Partitur von „Die Sache Makropulos“ verbringen. Da hat er mir alle seine Kniffe verraten. Wenn es darum ging, sein Wissen zu teilen, war er ungeheuer großzügig.

Eine „Fahrstunde“? Wie meinen Sie das?

Bei Janácek schauen Sie sehr oft auf die Noten und fragen sich: Was soll das bedeuten? Janácek hat ja sein ganzes Leben gebraucht, um einen Weg zu finden, die Klänge, die ihm im Kopf herumgingen, in Notenschrift umzusetzen. Oft will er beispielsweise, dass sich zwei Tempi überlagern. Das muss man dann erst einmal verstehen: Hier läuft das eine Tempo noch weiter, während dort sich bereits das neue darüberlegt. Das Tolle an Janámek ist ja: Je besser man ihn spielt, desto mehr klingt er nach weitergedachtem Dvorák. Es ist genuin tschechische Musik: So rau es manchmal klingt, im Kern bleibt es immer lyrisch, und wo es sanglich wird, hat die Musik immer auch Durchsetzungskraft. Eine faszinierende Mischung.

Janácek hat erst sehr spät seinen unverwechselbaren Personalstil entwickelt.

Die Werke, die er vor seinem 40. Lebensjahr komponiert hat, sind wirklich uninteressant. Beim frühen Verdi hört man immer schon ein wenig von dem, was kommen wird. Bei Janámek nicht.

Erst die intensive Beschäftigung mit der Sprachmelodie brachte ihn voran ...

... davon reden immer alle, denn das ist der zugänglichere Teil seines Stils. Kaum jemand aber spricht über die wirklich außergewöhnliche Orchestrierung. Er nutzte zum Beispiel kein vorgefertigtes Notenpapier, bei dem für jedes Instrument ein System vorgesehen ist, sondern er notierte immer nur die Instrumente, die er gerade brauchte. Das erschwert die Lektüre enorm. Seinen Zeitgenossen erschien diese Musik so ungeheuerlich, dass immer wieder in die Partituren eingegriffen wurde, um Dinge zu glätten, einen romantischeren Klang herzustellen.

Genie kann man also auch in fortgeschrittenem Alter entwickeln?

Absolut! Pierre Boulez hat mal gesagt: Janácek ist der beeindruckendste Amateur der Musikgeschichte – und das war im positivsten Sinne gemeint. In diesen Partituren ist nichts handwerklich gedacht – Janámek konnte nicht in allen Fällen eine praktikable Lösung für das finden, was er im Ohr hatte. Wenn ich Leute treffe, die behaupten, sie mögen keine Oper, sage ich immer: Schaut euch Janámek an! Da gibt es nichts Überflüssiges, kein „Fett“, das man weglassen könnte. Diese Werke bewegen sich wirklich in der Geschwindigkeit von Theaterstücken.

Darum spielen Sie „Katja Kabanova“ an der Staatsoper auch ohne Pause?

Das Stück hat einen so starken Sog, dass man es einfach in einem Stück erleben muss. Das Letzte, was dieses düstere Gesellschaftsdrama braucht, ist Smalltalk in der Pause! Nach 95 Minuten fällt der Vorhang – und Sie werden eher das Gefühl haben, dass es zu schnell vorbei war.

In Berlin wird eine Produktion von Andrea Breth gezeigt, die 2010 in Brüssel herausgekommen ist.

Eigentlich war eine Neuproduktion geplant, mit einem anderen Regieteam. Aber das Projekt zerschlug sich, so dass wir auf die Brüsseler Produktion zurückgegriffen haben. Das war keine Notlösung, denn ich wollte schon lange mit Andrea Breth zusammenarbeiten.

Aber die Stückauswahl kam von Ihnen?

Als Daniel Barenboim und ich vor vielen Jahren über gemeinsame Pläne sprachen, habe ich mir diese Oper gewünscht. Und zwar mit Eva-Maria Westbroek als Katja. Eine Künstlerin, die ich verehre, weil sie absolut furchtlos ist.

Sie binden sich nicht exklusiv an die Staatsoper, jüngst haben Sie den „Ring des Nibelungen“ an der Deutschen Oper dirigiert.

Das war ein Freundschaftsdienst, den ich Donald Runnicles, dem Generalmusikdirektor, seit langem versprochen hatte. Und es war großartig, weil ich dort so freundlich aufgenommen wurde.

Zu Jahresbeginn haben wir im Tagesspiegel eine satirische Textsammlung veröffentlicht, in der wir auf 2014 zurückblicken. Ulrich Amling imaginierte, dass die Berliner Philharmoniker die Nachfolgefrage entschieden haben. Künftig würden sie sich reihum selber dirigieren. Eine gute Idee?

Na klar – solange sie mich ab und an bei den Perkussionisten mitspielen lassen!

Es gibt Gerüchte, Sie würden 2018 nach London wechseln ...

Das muss wohl stimmen – es stand schließlich in der „Times“!

Gibt es denn tatsächlich derartige Pläne?

Das Einzige, was für die Zukunft feststeht, ist, dass wir in Berlin wohnen bleiben. Das hat der Familienrat beschlossen. Alles andere ist in der Schwebe. Ich muss ja nicht zwangsläufig am Tag nach meinem Berliner Abschiedskonzert sofort einen neuen Job antreten. Beziehungen wechselt man nicht wie Unterwäsche.

Andererseits haben Sie seit Ihrem 25. Lebensjahr immer eine Chefdirigentenstelle innegehabt. Wären Sie überhaupt ohne eine musikalische Familie glücklich?

In der Tat bin ich nicht zum Gastdirigenten geschaffen, der durch die Welt jettet und mal da, mal dort einschwebt. Die Vorstellung, eine neue musikalische Familie zu haben, erscheint mir durchaus verheißungsvoll. Was aber nicht ausschließt, dass ich weiterhin regelmäßig mit den Berliner Philharmonikern zusammenarbeite. Sofern mein Nachfolger damit einverstanden ist ...

Zumindest bis zum Sommer 2018 können Sie ja noch einige rote Fäden Ihrer Programmatik weiterverfolgen ...

Ist es nicht absurd, dass im Klassikbetrieb so langfristig geplant werden muss? Mir erscheint das alles noch unendlich weit weg. Mein Achtjähriger wird dann ein Teenager sein!

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