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Der US-amerikanische Sänger Matt Berninger, 49.

© Chris Sgroi

Interview mit Matt Berninger: „Ich habe beim Schreiben fast immer geweint“

The-National-Sänger Matt Berninger bringt sein erstes Soloalbum heraus. Eine Gespräch über frühes Aufstehen, Ängste und die Arbeit mit Booker T Jones.

Mister Berninger, wo erreiche ich Sie?
Ich bin in meinem Haus in Venice, Kalifornien und wecke wahrscheinlich gerade meine Frau und meine Tochter.

Es muss 7.30 Uhr bei Ihnen sein – und Sie geben schon ein Interview …
Ja, ich stehe um 4.30 Uhr auf. Aber das ist ein sehr langsamer Start, bis sechs Uhr bin ich nicht wirklich angezogen. Auf Tour mit einer Band lernt man zu schlafen, wann und wo sich die Möglichkeit bietet. Sonst bekommt man einen Burnout. Aufzustehen, bevor die Sonne aufgeht, um zum nächsten Gig zu fahren, ist ein Teil davon. Ich glaube, deswegen ist mein Tagesablauf so merkwürdig.

Im Augenblick sind Sie gezwungen, eine Pause vom Touren einzulegen. Vermissen Sie es?
Ja, es ist schon sonderbar. Aber ehrlich gesagt habe ich mein Kind immer weit mehr vermisst. Das mache ich jetzt wieder gut. Ich glaube jedoch auch, meine Tochter kann es nicht erwarten, dass ich wieder auf Tour gehe. Sie mag ihren Freiraum.

Wie alt ist sie?
Sie wird bald zwölf. Aber manchmal habe ich das Gefühl, sie wäre schon 25.

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Der Lockdown hat die Arbeit an Ihrer Soloplatte aber nicht beeinträchtigt, oder?
Die Songs habe ich alle davor geschrieben, aber der Lockdown hat die Arbeit an den Videos beeinflusst. Wir waren 14 Tage im Studio und haben jede Sekunde gefilmt. Ein Glück, denn jetzt haben wir dieses tolle Filmmaterial. Ich kann es gar nicht erwarten, alle wieder zusammenzutrommeln und auf Tour zu gehen.

Obwohl Sie mit so vielen Musikerinnen und Musikern zusammengearbeitet haben, klingt „Serpentine Prison“ nach einem sehr persönlichen Album …
Seit langer Zeit schreibe ich die Texte für The National mit meiner Frau Carin Besser. An den Lyrics für „Serpentine Prison“ habe ich nebenbei gearbeitet, ohne Ziel im Kopf. Das ist der Solo-Aspekt des Albums. Aber als es Zeit war, die Stücke aufzunehmen, wurde es zum kollaborativsten Projekt, das ich je gemacht habe. Es klingt wie ein Witz: Ich wollte unbedingt etwas allein machen. Also habe ich mir 20 brillante Musiker ins Studio eingeladen.

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Für „Serpentine Prison“ haben Sie mit Produzenten-Legende Booker T Jones zusammengearbeitet, für dessen Platte „The Road From Memphis“ Sie 2011 einen Song einsangen. Was macht ihn besonders?
Booker war der entscheidende Faktor, damit die Platte funktioniert. Er strahlt Autorität aus, alle Leute im Raum fokussieren sich automatisch auf ihn. Wie ein Hütehund, und wir waren seine Schafe.

„Serpentine Prison“ fühlt sich anders an als ein The-National-Album. Akustischer, zerbrechlicher. Wie haben Sie zu diesem Sound gefunden?
Es sind zehn Songs auf der Platte, die ich mit ungefähr acht verschiedenen Leuten erarbeitet habe. Da habe ich mir schon Sorgen gemacht, wie alles zusammenpasst – ein weiterer Grund, warum Booker so wichtig war. Ich wusste, dass ich jemanden mit einem visionären Ohr brauche. Ha! Das klingt merkwürdig. Aber er hat eben schon mit Künstlern aus allen Genres gearbeitet. Booker war vollkommen in den Songs drin, und alle anderen haben sich ganz auf ihn eingelassen.

Hat Ihnen die Solo-Arbeit Appetit auf mehr gemacht?
Booker und ich starten ein Plattenlabel. Aber wir möchten auch Bücher rausbringen, und ich will einen Stuhl designen. Ich habe Unmengen an Projekten, die ich nicht als abgeschlossen voneinander betrachte. Wie Ordner, die auf dem Boden ausgebreitet liegen. Ich sortiere einfach: Das kommt hierhin, das kommt dorthin.

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Und woher wussten Sie, dass diese Songs nun in den Ordner „Soloalbum“ gehören?
Ich hatte über einen langen Zeitraum jeweils ein, zwei Songs mit all diesen Musikern erarbeitet, und keines der Stücke hätte auf eine andere Platte gepasst. Als ich mit Booker zusammenkam, dachte ich zuerst, wir machen ein Cover-Album. Dann habe ich ihm die Songs gezeigt, und er sagte: Lass uns auf diese konzentrieren.

Das Schreiben scheint ein wichtiger Teil Ihres Lebens zu sein.
Ich mache eine Therapie, alle drei Wochen gehe ich zur Sitzung. Das Songschreiben ist eine Erweiterung. Beim Schreiben ziehe ich mich an einen sicheren Ort zurück. Ich weine auch beinahe immer dabei. Es hat etwas sehr Kathartisches, in ein Rattenloch zu kriechen und dem Kern seiner Angst ins Auge zu blicken.

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Ich habe das Gefühl, dass Sie in Ihren Texten viele Leerstellen lassen …
Es wird mehr nicht gesagt als gesagt, ja. Die erste Strophe hat häufig nichts mit der letzten zu tun. Aber wenn alles in drei bis fünf Minuten passt und von ein wenig Musik untermalt wird, ist das das einzige verbindende Gewebe, das es braucht. Manchmal weiß ich nicht mal, was eine Zeile bedeutet. Aber genau diese ungezähmten Stücke sind es, die lebendig bleiben. Ein Song muss Haare auf dem Rücken haben, damit ich ihm glaube.

Nick Cave zieht immer einen Anzug an, bevor er sich ins Arbeitszimmer zur Schreibmaschine zurückzieht. Haben Sie auch eine solche Routine?
Nein, ich schreibe auf alle möglichen Weisen. Am häufigsten auf meinem Handy. Wenn ich Fahrrad fahre, halte ich an, tippe ein bisschen und maile mir selbst einen Song. Manchmal liege ich im Bett und fange an zu kritzeln. Ganz so, wie es am bequemsten ist. Wenn sich das Schreiben schwierig anfühlt, mache ich etwas falsch. Mein Job ist es, etwas anderes als einen Job zu machen.

[„Serpentine Prison“ erscheint am 18.10. bei Caroline]

Dauerte es lange, bis Sie Ihre Art zu arbeiten gefunden hatten?
Auf jeden Fall hat sie sich stark verändert. Ich hatte früher eine sehr begrenzte Vorstellung davon, was ein guter Song ist. Nach fünf oder sechs Alben hast du das Gefühl, dass du alles aus dem Songschreiben herausgeholt hast. Dann trittst du einen Schritt zurück und erkennst: Oh Gott, du warst in dieser winzigen Blase und hast nicht mal gemerkt, wie wenig du weißt.

Die Zusammenarbeit mit Regisseur Mike Mills am jüngsten The-National-Album „I Am Easy to Find“ soll Ihre Art zu schreiben stark beeinflusst haben …
Mike hat als Grafikdesigner angefangen, genau wie ich. Er hat all diese Design- und Filmideen hineingebracht und letzten Endes sind das ebenfalls Wege, Gefühle und Gedanken zu transportieren. Auch The National versuchen sich als Rockband immer wieder neu zu verdrahten. Ich glaube, wir bleiben überhaupt nur zusammen, weil wir uns öffnen.

Also stärken Seitenprojekte letzten Endes den Zusammenhalt der Band?
Definitiv. The National sind wie eine Scheune. Die Türen sind herausgefallen, alle Fenster kaputt, Kreaturen klettern hinein, andere heraus. Efeu ist über alles gewachsen und Fledermäuse wohnen im Gebälk – aber es ist eine sehr gesunde Farm.

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