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Jackie Thomae, geboren 1972 in Halle, lebt seit 1989 in Berlin. Ihr Roman "Brüder" steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

© Urban Zintel/Verlag

Interview mit Jackie Thomae: „Ich habe Erfahrung mit lästigen Fragen“

Die Schriftstellerin Jackie Thomae über ihre Kindheit in der DDR, rassistische Anfeindungen und die wilden Berliner 90er.

Frau Thomae, Ihr Roman „Brüder“ hat ein Cover in unterschiedlichsten Brauntönen, und die Widmung lautet: „Für Euch, schwarze Schafe“. Man wird also gleich auf die Hautfarben-Thematik gestoßen.
Ja, das wird hier grafisch umgesetzt, und ich bin sehr zufrieden damit. In diesen sogenannten Nude-Tönen funktioniert das Cover auch unabhängig vom Thema als schönes Streifendesign. Wie ein Paul-Smith-Schal, schick, oder? Auch das mit den schwarzen Schafen ist schön doppeldeutig. In Berlin gab es in den 90ern so viele davon. Die kamen aus der Provinz, wurden als solche bezeichnet oder sahen sich selbst so – und konnten hier in Ruhe sein, wer sie sein wollten. Mein ganzer Freundeskreis bestand damals aus diesen liebenswerten Gestalten, und da ging es nicht um die Hautfarbe.

Die Hauptfiguren Ihres Romans sind zwei in der DDR aufgewachsene Brüder, Michael und Gabriel, die sich nicht kennen, denselben senegalesischen Vater haben und allein von ihren deutschen Müttern beziehungsweise Großeltern aufgezogen wurden. Warum zwei Brüder, die überdies extrem unterschiedlich sind?
Ich wollte erst mal hautfarbenunabhängig zeigen, wie anders bestimmte Leben verlaufen, was aus ähnlichen Startvoraussetzungen werden kann. Der eine geht mit 15 mit seiner Mutter von Ost- nach West-Berlin und ist in seinen jungen Jahren ein Freak, jemand, der in den Tag hineinlebt, der andere ein Streber. Der eine kann gut mit Frauen, hält sich für attraktiv, dem anderen ist das egal, der ist vor allem zielstrebig. Es macht einen enormen Unterschied, wenn man früh weiß, was man will. Oder ob man sich selbst für schön hält oder nicht. All das hätte mich auch interessiert, wenn beide keinen afrikanischen Vater gehabt hätten.

Den sie aber haben – und nicht kennen.
Ja, in Deutschland und vorher, als Kinder in der DDR, haben sie mit dieser Herkunft keinen Gruppen-, sondern eher einen Einzelstatus, mit dem sie jeder auf seine Art dealen. Die Frage, die auch ein Motto des Buches ist, lautet ja: Wie wir zu den Menschen werden, die wir in der Mitte unseres Lebens sind. Und ich beantworte sie nicht in einem Satz, aber ich erzähle, wie unterschiedlich zwei Männer, die sich äußerlich ähneln, sich selbst und das Leben betrachten können.

Ich habe mich natürlich auch gefragt, wie ich den Rassismus darstelle, dem sie begegnen. Und mich dann entschieden, einen Rassismus zu zeigen, der subtil ist, der häufig eher als Thema in ihr Leben tritt, nicht als direkter Angriff. Ich glaube, dass viele das kennen, und ich wollte keine Geschichte von zwei Menschen erzählen, die sich permanent in einer Rassismuskonfrontation befinden. Ich wollte viel mehr Themen in dieses Buch bringen, die Hautfarbe ist nur eins davon.

Wer Geschichten erzählen will, braucht keine Biografie

Es gibt auch drei Frauen, die eine wichtige Rolle spielen, weiße Frauen im Übrigen. Am eindrucksvollsten aber ist, wie gekonnt Sie sich in die Gedanken- und Gefühlswelt zweier Männer begeben.
Ich wollte unbedingt Männer haben. Mir hatte das schon bei meinem Debütroman „Momente der Klarheit“ so viel Spaß gemacht, männliche Charaktere zu beschreiben. Und es schien mir auch gelungen zu sein, zumindest haben mir viele Männer gutes Feedback gegeben. „Momente der Klarheit“ sollte allgemeingültig sein, da ist nichts Memoirenhaftes drin. Wer wirklich Geschichten erzählen will, braucht seine Biografie dafür gar nicht. Die Geschichten fallen einem ein, dann ist man Fiction-Autorin.

Wie autobiografisch ist „Brüder“ denn?
Mehr als „Momente der Klarheit“, es wäre albern, das abzustreiten. Man sieht es ja praktisch, dazu stehe ich auch. Trotzdem ist „Brüder“ eine fiktionale Geschichte, deren Protagonisten aber meine Brüder sein könnten. Es war so, dass mein Vater 2014 völlig überraschend in mein Leben zurückkam. Ich bin, wie meine Romanhelden, bei meiner deutschen Mutter aufgewachsen. Mein Vater, der aus Guinea in Westafrika kommt, lebt in Deutschland. Ich habe kurz daran gedacht, den Roman an seine Biografie anzulehnen: Junger Mann aus ehemaliger Kolonie kommt Ende der 60er zum Studieren in die DDR.

Warum haben Sie sich dann doch anders entschieden?
Ich wollte lieber von meinem Vater losgelöst arbeiten, aus meiner Generation herausschreiben und nicht von einem Interviewpartner abhängig sein. Und ich wollte die fiktionale Freiheit. Ich hatte hier das emotionale Material, aus meinem persönlichen Erleben, und ich hatte den Zeitgeist der 70er, der 90er Jahre und der Gegenwart. Obwohl die Familiengeschichte meiner ähnelt, war ich nie in Gefahr, meine Biografie zu verwenden. Ich wusste, ich habe genug anderen Stoff. Die Frage, die viel entscheidender war: Will ich, wenn der Roman erscheint, so viel über mich reden? Was ich nicht wirklich gern mache.

Ich bin keine Ostalgikerin

Und was Sie jetzt am laufenden Band tun müssen. Wie geht es Ihnen damit?
Es fällt auf, dass jetzt alle immer nur Fragen zu meiner Hautfarbe haben, bevor sie überhaupt das Buch gelesen haben, vielleicht auch noch zu 30 Jahre Mauerfall. Ich bin 1972 geboren und habe ja bis 1989 in Leipzig gelebt. Das macht jetzt alles einen politischen Eindruck, fast so, als wäre „Brüder“ ein Memoir oder ein Essay. Ich habe vor ein paar Tagen ein Interview gegeben, in dem ging es überhaupt nicht um den Roman, nur darum, ob und wie sehr ich mich diskriminiert fühle. Wer das Buch liest, wird feststellen, dass meine „Brüder“ viele Begegnungen haben, bei denen sie eben nicht diskriminiert werden. Das war mir wichtig. Trotzdem: Das Buch wird stark politisiert, klar.

Das dürfte Sie nicht überraschen.
Nein. Aber ich habe meinen Brüdern auch eine Normalität mitgegeben. Denn die kenne ich aus eigener Erfahrung. Ich beschreibe zum Beispiel keine Horrorkindheiten. Natürlich bekommen beide immer wieder Fragen gestellt, denn gerade Kinder stellen anderen Kindern Fragen. Das ist normal, das mögen beide nicht besonders, akzeptieren es aber, so wie ich es irgendwann ebenfalls akzeptiert habe. Anfangs heißt es im Buch über Mick: „Wer war das? Ein paar Rowdys, der kleine Schwarze war auch dabei.“ Diese Aussage würde man den Leuten heute ankreiden, man könnte ihnen aber auch zugestehen, dass „der kleine Schwarze“ nur eine Beschreibung ist, wie „der Blonde“ oder „die kleine Rothaarige“. Ich bin keine Ostalgikerin, aber ich liefere auch keine Gruselgeschichten aus dem Osten. Ich bemühe mich um einen genauen Blick und damit gegen Klischees, nicht nur, was die Hautfarbe betrifft.

Wie ausgeprägt war der Rassismus in der DDR?
Das ist schwer zu beantworten. Als Kind hat man eine andere Wahrnehmung als als Erwachsener, und die Zeit war eine andere. Auch macht es einen Unterschied, ob man wirklich aus einem anderen Land kommt, die Sprache erlernen und sich zurechtfinden muss – oder ob man in dieses Land und auch in eine deutsche Familie hineingeboren wurde, so wie ich. Fest steht, dass die Welt damals und insbesondere in der DDR kleiner war.

Das heißt, Sie sind aufgefallen.
Ja, in der Provinz natürlich mehr als in Städten wie Leipzig. Aber Leute wie ich oder meine „Brüder“ waren erstens nicht die Einzigen, die nicht deutsch aussahen, und zweitens darf man sich nicht vorstellen, dass es permanent nur darum ging. Im Gegenteil. Mit dieser Behauptung würde ich den Leuten Unrecht tun. Vielen war meine Hautfarbe tatsächlich egal. Nicht um sich selbst als besonders weltoffen und tolerant darzustellen, sondern einfach so. Auch das ist ein Thema meines Buches: Es gibt Menschen, die sind von Natur aus einfach keine Rassisten, und es sind nicht mal wenige. Nur wird über diese Menschen wenig geredet.

Taxifahrer dürfen Fragen stellen

Sie kennen aber auch so vermeintlich harmlose Fragen nach der Herkunft?
Ja, das ist lästig, vielleicht übergriffig, aber nicht per se rassistisch, wenn man dann antwortet, man komme aus Herne oder Berlin und das weitere Nachfragen provoziert. Ich habe Erfahrung mit lästigen Fragen und bin an dieser Stelle alarmiert. Aber auch ich habe anderen Leuten versehentlich schon Fragen gestellt, die sie 1000 Mal gehört haben und die ihnen zu Recht auf den Geist gehen. Taxifahrer fragen mich zum Beispiel häufig, woher ich komme, um mir dann zu erzählen, woher sie kommen. Ich mag diese Gespräche. Die Frage ist nämlich auch immer: Wer fragt und wie. Aber so was wie „Du bist schwarz, ich mag dich nicht“, das ist mir selten bis nie passiert.

Und wie war es in West-Berlin?
Das war eine wahnsinnig angenehme Stadt! Ich bin, gleich nachdem ich aus Leipzig gekommen war, in Mitte gelandet, in der Brunnenstraße, in einem Haus mit ungeklärten Besitzverhältnissen. Da wohnten Punks aus Rostock, irgendwelche Freaks aus Ost-Berlin. Klar, es sah aus wie in Leipzig, und ich wollte den Osten loswerden und bin deshalb ziemlich bald nach Schöneberg gezogen, während viele Freunde aus dem Westen unbedingt den Osten entdecken wollten. Aber für uns alle war Berlin damals der perfekte Ort. Und die Hautfarbe spielte in der Kunst- und Partyszene sowieso keine Rolle. Deshalb ist mein Buch unter anderem auch eine Hommage an West-Berlin. Dann ist es eine Hommage an die Leute, die überhaupt keine Rassisten sind, die sich einfach um andere Sachen kümmern, und als Drittes verstehe ich es als Hommage an Leute, die ihre Kinder allein großziehen, so wie meine Mutter.

Sie sprechen davon, dass es viele Menschen gibt, denen die Hautfarbe total egal ist. Aber das ist heutzutage überhaupt kaum noch möglich, da der Rassismus immer virulenter wird. Was ist mit den Privilegien der Weißen, von denen diese gar kein Bewusstsein haben?
Es ist komplizierter geworden, für alle, das stimmt. Ich meine für mich selbst, einen Radar zu haben dafür, wo ich besser nicht hingehe, wo ich mich nicht wohlfühle als Nichtweiße, selbst wenn andere sagen, dass es dort völlig okay ist. Diesen Radar haben auch andere Minderheiten, Leute, die sich wie auch immer aus der Masse hervorheben. Das funktioniert aber genauso umgekehrt mit dem Radar: Ich gehe irgendwohin, die Leute dort sind abweisend, vielleicht sogar unverschämt, und trotz dieser miesen Stimmung ist klar: Das ist kein Rassismus, das ist Antipathie, schlechte Laune, was auch immer. Schön ist das nicht, aber das muss es geben dürfen, dass Menschen sich einfach so nicht leiden können.

Noch mal die Frage, wie Sie selbst heute mit Rassismus umgehen, ob Sie sich manchmal diskriminiert fühlen?
Ich bin in der komfortablen Situation, so gut wie keinen sogenannten Alltagsrassismus zu erleben. Das heißt nicht, dass ich ausblende, dass er existiert. Ich finde es beispielsweise unfassbar, dass man in Fußballstadien immer wieder Affenlaute hört, wenn ein schwarzer Spieler am Ball ist. Dann bin ich entsetzt, dass es so etwas noch gibt. Weil ich eine lange Zeit lang das Gefühl hatte, die Welt werde offener. Es gibt viele Leute, die das genauso schockiert. Diese Situationen betreffen mich dann auch persönlich und verletzten mich.

In meinem Arbeitsumfeld und Privatleben ist das anders, das meine ich mit komfortabel. Denn wenn man immer, wenn man irgendwo hinkommt, zuerst die Hautfarbenfrage klären oder Klischees aus dem Weg räumen muss, kostet das viel Zeit und Energie. Ich habe mir immer Leute gesucht, mit denen ich gemeinsame Interessen teile, deren Humor der meine ist und so weiter. Auch die Leute in meinem Umfeld, die nicht weiß sind, kenne ich nicht aufgrund ihrer Herkunft, sondern weil wir uns in denselben Kreisen bewegen. Meist reden wir über andere Dinge, trotzdem haben wir gemeinsame Erfahrungen, klar.

Ihren Roman soll man also keinesfalls nur als politischen Roman lesen?
Das wäre mir wirklich zu wenig. Ich habe eine Geschichte erzählt, die sehr viel mehr sein soll. Wir leben in einer schnellen Zeit, in der wir mit Unterhaltung regelrecht beworfen werden, das wirkt sich auch aufs Erzählen aus. Ich habe meine Figuren so angelegt, dass hoffentlich viele Leute sich in ihnen wiederfinden, sich verstanden fühlen. Und ja, warum soll man sich nicht einmal in den Sand legen und sich unterhalten lassen?

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