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Giulia Silberberger und ihr Mitarbeiter Rüdiger Reinhardt.

© Pavol Putnoki

Interview mit Expertin für Verschwörungstheorien: „Etwas nicht erklären zu können, ist ein echt fieses Gefühl“

Giulia Silberberger wuchs in einer Sekte auf. Heute engagiert sie sich gegen ideologischen Missbrauch. Ein Gespräch über den Umgang mit Verschwörungstheoretikern.

Giulia Silberberger ist Gründerin und Geschäftsführerin der gemeinnützigen Berliner Organisation „Der goldene Aluhut“. Seit 2014 engagiert sie sich für die Aufklärung über Verschwörungsideologien, Sekten und ideologischen Missbrauch. Durch Weiterbildung und Workshops, aber auch durch die jährliche Verleihung des Negativpreises „Der goldene Aluhut“ in Berlin – dem satirischen Award für die Verschwörungstheorien des Jahres. Silberberger stieg 2007 aus der Sekte der Zeugen Jehovas aus.

Frau Silberberger, Ihre Initiative „Der goldene Aluhut“, mit der Sie Bildungsarbeit zu Verschwörungstheorien leisten, baut auf zwei Säulen auf: „Aufklärung und Humor“. Beginnen wir mit dem Humor. Welche Verschwörungstheorie hat für Sie in der Coronakrise den höchsten Unterhaltungswert?

SILBERBERGER: Die Theorie, dass Bill Gates hinter allem steckt. Gerade heute morgen habe ich aus dem Umfeld vom „Widerstand2020“, den Kritikern der Anti-Corona-Maßnahmen, einen Screenshot von einem Quellcode einer Webseite gesehen. Darin taucht Microsoft auf. Und weil Gates schließlich der Gründer ist, hieß es: „Da habt ihr den Beweis.“ Aber mir vergeht das Lachen langsam, es wird immer bedrohlicher.

Was befürchten Sie?

Die Szene wird zunehmend gewaltbereit. Das sehen wir jedes Mal, wenn sie demonstrieren. Zuletzt wurden wiederholt Fernsehteams angegriffen. 

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Sie bewegen sich für Ihre Arbeit viel in sozialen Netzwerken, auch verdeckt in geschlossenen Gruppen von Verschwörungstheoretikern. Was ist dort das bestimmende Thema?

Der Widerstand gegen den Staat. Die Menschen fühlen sich gegängelt und behaupten, es werden im Zuge der Coronakrise gerade ein totalitäres System errichtet und die Grundrechte beschnitten.

Das war aber in rechten Kreisen auch vor der Krise eine gängige Behauptung.

Die Motive werden auf die Situation angepasst. Ein Beispiel: Seit Jahren fürchten Verschwörungstheoretiker, dass das Bargeld abgeschafft wird. Und jetzt schreien sie auf, weil wegen der Ansteckungsgefahr darum gebeten wird, in der Coronakrise kontaktlos zu zahlen. 

Das klingt noch eher harmlos.

Das ist nur der Anfang. In rechten Foren wird schon seit Jahre prophezeit, dass ein Virus von jüdischen Pharmakonzernen in die Welt gesetzt wird, um die Bevölkerung zu dezimieren. Damit sie leichter zu kontrollieren sei. Die Coronakrise ist also ein gefundenes Fressen für antisemitische Verschwörungstheoretiker. Für sie waren auch schon Ebola und HIV menschengemacht - und jetzt kommt eben das Coronavirus. Dass es womöglich wirklich aus einem Labor kommt, befeuert die Spekulation.

Gibt es Bevölkerungsgruppen, die besonders anfällig für Verschwörungstheorien sind?

Es sind vor allem ältere Menschen, die sich bedroht fühlen. Angst ist die zentrale Triebfeder. Manche haben schon Erfahrungen mit staatlicher Kontrolle in totalitären Systemen gemacht. Ob in der DDR oder anderen Diktaturen. Es gibt eine Studie, wonach Menschen, die in Sekten oder fundamentalistischen Religionen aufwuchsen, anfälliger sind. Oft sind es aber einfach Personen in schwierigen Lebenssituation. Manche haben ihren Job verloren oder sind mit einer schweren Krankheit konfrontiert. Bei einer Krebsdiagnose können Verschwörungstheorien eine emotionale Entlastung bieten. Dann greifen Patienten auf "Germanische Heilkunde" zurück. Und Antisemitismus ist in der Alternativmedizin eine furchtbare Seuche. Aber der Verschwörungsglaube ist auch selbst oft ein Ausdruck einer seelischen Erkrankung. 

Giulia Silberberger, Gründerin der Initiative "Der goldene Aluhut".
Giulia Silberberger, Gründerin der Initiative "Der goldene Aluhut".

© privat

Inwiefern erleichtern die Corona-Maßnahmen verschwörungstheoretisches Denken?

Man sitzt zu Hause, hat wenig sozialen Abgleich und viel Zeit für die Echokammern im Internet. Und dann sagen Menschen natürlich: Ich sehe ja niemanden, der krank ist - also kann es Corona nicht geben.

Also gibt es sowohl die Leugner als auch die Weltuntergangspropheten?

Klar, sie einigen sich auf den Gedanken des Widerstands. Das ist ein großer Begriff, der auch die Querfront erklären könnte. Da ist es linken Demonstranten dann auch egal, dass der andere ein Nazi ist, der an ein Fortleben des Deutschen Reiches in der Hohlwelt glaubt. In diesen Kreisen lautet die Devise: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. 

Aber in Ungarn nutzt Viktor Orbán die Coronakrise tatsächlich für einen Ausbau seiner Macht. Ist es eine gesunde Skepsis in diesen Zeiten nicht auch wertvoll?

Das ist natürlich unheimlich wichtig. Fragen und hinterfragen. Kritisch bleiben. Aber es kommt auf die Quellen an und die richtige Aufarbeitung der Informationen.

Warum nehmen Verschwörungstheorien gerade so viel Platz im öffentlichen Diskurs ein?

Die Welt hat das schon oft gesehen. In Krisenzeiten hatten Verschwörungstheorien immer Hochkonjunktur. Beispielsweise der Vorwurf der Brunnenvergiftung, was den Juden zur Zeit der großen Pest in die Schuhe geschoben wurde. Oder Frauen, die als Hexen beschuldigt wurden, weil sie die Ernte vernichtet haben sollen. 

Was bräuchten wird in der Krise, um nicht auf Verschwörungstheorien reinzufallen?

Besonnenheit. Aber wir haben jetzt das Internet. Alles ist beschleunigt. Da bleibt keine Zeit den Spalt zwischen Wissensdurst und Fakten zu füllen. Wissenschaft braucht Zeit, um Wissen zu schaffen. In diesen Spalt werfen die Verschwörungsideologen Ihre Saat. Etwas nicht erklären zu können, ist ein echt fieses Gefühl für Menschen - das muss man erstmal aushalten.

TV-Koch Attila Hildmann und Sänger Xavier Naidoo halten es offensichtlich nicht aus.

Attila Hildmann wurde mit offenen Armen in der Verschwörungsszene begrüßt. Xavier Naidoo ist gerade erst bei RTL rausgeflogen. Er nimmt jetzt die Liebe seiner Verschwörungsideologen dankbar an. Die tragen ihn weiterhin auf Händen. Ob das bewusst passiert, ist eine andere Frage. So etwas kann man aber auch bei Onkel Heinz beobachten, der von der Familie als nervig empfunden wird und im Netz seinen Zuspruch bekommt. 

Hildmann sagt, er will in den Untergrund gehen, mit der Waffe in der Hand sterben. Wann wird es gefährlich für die Demokratie?

Die Gefahr ist, dass die Minderheitenphänomene sich zu einer kritischen Masse zusammenschließen, einen Gravitationspunkt finden. Auch bei der AfD hat niemand gedacht, dass die irgendwann im Bundestag sitzen. Mit "Widerstand2020" könnte jetzt eine Partei für Verschwörungstheoretiker entstehen.

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Viele machen gerade die Erfahrung: Angehörige und Freunde schicken Videos mit dubiosen Inhalten herum. Wie sollte ich als Empfänger reagieren? 

Wichtige Fragen stellen: Von wem kommt das Video? Kenne ich die Quellen? Ist es professionell gemacht und lässt sich einer seriösen Nachrichtenquelle zuordnen. Oder ist es laienhaft gestaltet? Finde ich die Information im Internet wieder? Gibt es ein Impressum, wo ich die Urheber finden kann? Oft findet man auch einen Faktencheck zum Thema im Internet. Es gibt eine Vielzahl an seriösen Seiten, die verdächtige Informationen und ihre Quellen überprüfen. 

Wie begegne ich dem Absender, der von den Inhalten überzeugt ist?

Ich würde empfehlen mit W-Fragen vorzugehen. Also: Wieso sollten die das machen? Warum glaubst du das? Mit welchen Mitteln könnten die das machen? Oft kommt das Gegenüber dann schnell in Schleudern.

Und dann?

Im besten Fall: Alternativen aufzeigen. Man kann sagen: Ich verstehe, dass Du Angst vor dem Klimawandel hast. Aber wer sich für den Umweltschutz einsetzen möchte, muss nicht mit den Anhängern der Chemtrail-Theorie heulen, die behaupten, wir werden von Flugzeugen aus absichtlich mit Chemie vergiftet. Gleiches gilt für soziale Ungerechtigkeit. Dafür braucht man keine Revolte aus dem Internet. Im besten Fall bringt man die Person zur Selbstreflexion: Warum möchte ich das gerade glauben? Was könnte ich damit kompensieren?

Viele Verschwörungstheoretiker reagieren dann aber um so verbissener.

Da müssen wir unterscheiden, ob jemand bloß einzelnen Fake-News aufsitzt oder ein gefestigter Verschwörungstheoretiker ist. In letzterem Fall kann man sich meist den Quellencheck sparen. 

Also von der Person ablassen?

In solchen Fällen geben wir als Initiative auch an psychologische Beratungsstellen ab, die Angehörigen vermitteln können, wie man sich emotional abgrenzt. Denn jeder Angriff auf ein gefestigtes Weltbild, jeder Widerspruch wird von überzeugten Verschwörungstheoretikern als Bestätigung des eigenen Glaubens gewertet. Gerade wenn das mit rechtem Gedankengut zusammengeht, ist es trotzdem wichtig, Gegenrede zu leisten. Aber letztlich hat jeder Mensch das Recht dazu, gegen Wände zu laufen. Es ist nicht schön, mit anzusehen, wie nahe Menschen in Verschwörungstheorien abrutschen. Eine letzte Strategie ist zumindest, das persönliche Umfeld aufzuklären. 

Der Preis "Der goldene Aluhut" wird jedes Jahr in Berlin verlieren.
Der Preis "Der goldene Aluhut" wird jedes Jahr in Berlin verlieren.

© privat

Sie sprechen aus eigener Erfahrung…

Ja, meine Mutter ist auch in braune Kreise abgerutscht. Aber ich konnte sie nicht ändern und musste das akzeptieren. Wir haben dann nicht mehr drüber gesprochen. Bis zu ihrem Tod. 

Als Kind wuchsen Sie selbst in einem sehr ideologischen Umfeld auf…

Ja, bei den Zeugen Jehovas. Und ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Wer mit dem Weltuntergang vor Augen lebt, kann kein glücklicher Mensch sein. Ich habe eine schwere Behinderung davongetragen. Eine posttraumatische Belastungsstörung.

Wie konnten Sie sich aus der ideologischen Klammer lösen?

Das war ein jahrelanger Prozess. Der Irrglaube wurde mir anerzogen und aufgezwungen. Erst drei Jahre nach meinem Ausstieg habe ich in der Therapie verstanden, dass ich mich jederzeit dazu entscheiden kann, nicht mehr an etwas zu glauben. Das soll nicht wie eine Heldengeschichte klingen, wo ich mit wehenden Fahnen vorangehe. Aber es war die Erkenntnis meines Lebens: Endlich ein freier Geist sein zu können. 

Wo sehen Sie gesellschaftlichen Handlungsbedarf, um Verschwörungstheorien effektiv zu begegnen?

Ein Schlüssel ist die Medienpädagogik. Grundlagen müssen aber nicht nur in der Schule vermittelt werden, sondern auch an die Generation über 40. Die sind meist besonders anfällig für Verschwörungstheorien. Können aber nur ihr Handy bedienen und Nachrichten schreiben.

Haben Sie ein konkretes Beispiel für eine hilfreiche digitale Kompetenz?

Die wenigsten wissen, wie man eine Rückwärtssuche von Bildern in Google macht. Damit lässt sich jedes Foto überprüfen. Und dann erfährt man von einer Lokalzeitung, dass die Kirche, die angeblich von Geflüchteten abgebrannt wurde, doch durch Feuerwerkskörper entzündet wurde.

Der Mitte-Studie der Ebert-Stiftung zufolge, glauben 46 Prozent der Deutschen an „geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben“. Wie kann der Nährboden von Verschwörungstheorien ausgetrocknet werden?

Letztes Jahr wurden die Gelder für Präventionsmaßnahmen gekürzt. Dabei müssen wir die junge Generation dafür wappnen, dass sie darauf nicht reinfallen. Die Macht von ideologischem Missbrauch in der Gesellschaft wird immer noch unterschätzt. Der Staat darf nicht nur mit Verboten und Restriktionen reagieren, sondern muss Bildungsangebote ermöglichen. Es braucht mehr Beratungsstellen, mehr Psychologen, sensibilisierte Jugendämter. 

Sie sagten mal, wenn nichts mehr hilft, dann greifen Sie zur Ironie. Darum verleihen Sie Negativpreise an Verschwörungstheoretiker. Haben sie nicht Angst, dass die Fronten verhärten?

Das passiert allein durch meine Existenz. Ich bin in den Augen von Verschwörungstheoretikern doch Teil des Systems, das sie bekämpfen. Meine Hoffnung ist, dass meine Arbeit mehr Brücken schlägt, als Gräben vertieft.

Frau mit Aluhut.
Frau mit Aluhut.

© dpa

Inwieweit hilft Humor dabei als letzte Instanz?

Es hilft vor allem in erster Instanz. Ein entspanntes Gehirn lernt leichter. Wenn wir Menschen in Workshops dazu bringen, über verschwörungstheoretisches Geschwurbel zu lachen, dann bleibt das hängen. 

Verraten Sie, wen Sie in diesem Jahr als heißesten Kandidaten für den Preis „Der goldene Aluhut“ sehen?

Es gibt sehr viele Kandidaten. Vielleicht wird Xavier Naidoo seinen Titel verteidigen. Er hat aber harte Konkurrenz bekommen von Attila Hildmann. Und auch Bodo Schiffmann, der Arzt, der an der Spitze von "Widerstand2020" gegen die Corona-Maßnahmen kämpft, ist ein heißer Kandidat.

Wenn Sie eine Impfpflicht einführen dürften, was wäre Ihre Medizin für die Gesellschaft?

Humanistische Ideen, die Fähigkeit zu kritischer Quellenprüfung und zur Selbstreflexion. Dann hätte ein dualistisches Weltbild keine Chance mehr. Die Welt ist nicht bloß schwarz und weiß. Und vor allem kann man keine simplen Schablonen auf sie legen. 

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