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Die Musikerin und Poptheoretikerin Agnès Gayraud.

© Loïc Hecht

Interview mit der Philosophin Agnès Gayraud: „Was wir am Pop lieben, ist zerbrechlich“

Musik ist allgegenwärtig. Die Philosophin Agnès Gayraud spricht über die Gefahren des Streamings, Computer als Songwriter – und wie Adorno den Pop retten kann.

Agnès Gayraud, Jahrgang 1979, lehrt als Professorin für künstlerische Ausbildung und Theorie an der Ensba Lyon. Unter dem Namen La Féline tritt sie als Musikerin auf. Mit ihrem Werk „Dialectic of Pop“ hat sie eine umfassende Untersuchung von Popmusik als Kunstform vorgelegt. Im Rahmen des Festivals „Das Verschwinden der Musik“ stellt das Haus der Kulturen der Welt am 9. Dezember um 17 Uhr ihren Vortrag „The Hyper-Appearance of Music“ online.

Frau Gayraud, Sie sind Poptheoretikerin und Popmusikerin. Was dominiert dabei: Kopf oder Herz?

Als ich meine Doktorarbeit zu Adorno schrieb, hatte ich oft meine E-Gitarre an der Uni dabei und alle dachten, es müsste ein Cello sein. Adorno und Pop, das ist schwer zusammenzudenken. Ich frage mich während des Schreibens, ob ich damit meine Leidenschaft töte. Aber bei mir erzieht die Musikerin die Theoretikerin. Ich bin musikalisch ungebildet. Wenn ich alle kompositorischen Tricks kennen würde, wären viele „Unfälle“, die ich wertschätze, nie passiert. Du brauchst als Popmusikerin dieses Verlangen: Ich kann es nicht, also will ich es können.

Was verstehen Sie denn unter Popmusik?
Als Form ist das eine Vielzahl populärer Musikstile, die eines verbindet: Sie sind aufgenommen – ohne dieses Medium würde Pop nicht existieren. Das beginnt mit den amerikanischen Liedersammlern John und Alan Lomax. Sie reisten vor hundert Jahren mit einem Tonbandgerät herum und nahmen mündlich überlieferte Volkslieder auf. Beide verstanden, dass sie nicht nur archivierten, sondern eigenständige ästhetische Objekte schafften. Sie hielten einzigartige Interpretationen mit klanglichen Dimensionen fest, die die mündliche Überlieferung nicht beibehalten würde. Durch von ihnen veröffentlichte Mitschnitte des Bluessängers Leadbelly, konnten Menschen ihm in New York zuhören, obwohl er in Louisiana im Gefängnis saß. So wurde er zu einem frühen Popstar. Aufnahmen bedeuten Deterritorialisierung: Musik überschreitet die Grenzen einer Community und zirkuliert. Als Form umfasst Pop heute Blues, Reggae, Rock, sogar Techno und Heavy Metal. Aber natürlich berücksichtige ich verschiedene Genres. Pop als Stil hat andere Regeln als experimenteller Noise.

Mozart wurde persönlich nie aufgenommen. Sie weigern sich auch, seine Werke mit Pop-Hits zu vergleichen.
Mozart war ein Genie. Aber Pop lässt sich nur an der immanenten Ästhetik und seinen eigenen Regeln messen. Ich kann sagen, dass Steve Wonder ein Genie des Pops war. Aber es wäre doch eine dumme Hierarchie, wenn ich vollkommen verschiedene Arten der musikalischen Produktion miteinander vergleiche.

„Popmusiker verdienen kein Geld mehr mit Spotify“

Aber Sie sagen, dass schon bei Mozart oder Wagner Elemente der modernen Kulturindustrie aufscheinen.
Bayreuth ist ein Prototyp der immersiven Show im kulturindustriellen Maßstab. Diese überbordende Visualisierung der Musik. Das würde ich über Mozart nicht sagen. Das Interessante an ihm ist seine sehr tiefe Intuition im Bezug auf die Universalität der Musik. Er schrieb in einen Brief an seinen Vater, dass er die Musik des "gerechten Maßes" suche. Eine Musik, die allen gefallen würde, "ohne zu wissen warum" - vom Unwissenden bis zum Experten.

Ein Geburtsfehler des Pops?
Selbst den experimentellsten Musikern geht es heute um Zugänglichkeit. In Mozarts Zauberflöte gibt es die Szene, wo sich wilde Tiere um Tamino scharen, der auf der Flöte spielt. Das ist für mich fast eine Allegorie dessen, was ich "die Utopie der Popularität" nenne. Dieses Ideal einer Versöhnung durch Musik und in der Musik selbst. Zwischen Kunstfertigkeit und Vertrautheit, dem Genialen und dem Selbstverständlichen.

Der Philosoph Theodor W. Adorno, der für Ihr Denken zentral ist, würde das angreifen. Sie nennen ihn einen Vertreter des Anti-Pops.
Für Adorno hat die Kulturindustrie das Versprechen Mozarts getötet. Er zeigt auf, dass Populärmusik von Beginn an mit der Industrie verschmolzen war. Elvis erklingt zwar in unserem Wohnzimmer, aber Banalisierung und Standardisierung warten um die Ecke. Dennoch tendiert der Pop zum Ideal des individuellen Ausdrucks: Das ist sein magisches Versprechen, seine Erhabenheit. Wir müssen uns also mit dem Ideal und seiner Verneinung auseinandersetzen. Adorno ist ein objektiver Feind des Pops, aber für mich sein subjektiver Verbündeter. Er warnt: Was wir am Pop lieben, ist etwas sehr Zerbrechliches.

Der Streamingdienst Spotify steht oft in der Kritik, da Künstler sich ausgebeutet fühlen.
Der Streamingdienst Spotify steht oft in der Kritik, da Künstler sich ausgebeutet fühlen.

© Fabian Sommer/dpa

Sie schreiben, dass Pop noch aus voller Kehle singt, aber jetzt wie der Kanarienvogel im Kohlebergwerk der Weltwirtschaft.
Kanarienvögel wurden früher in Bergwerken eingesetzt, um vor Kohlenmonoxid zu warnen. Fielen sie von der Stange, wurde es gefährlich. Prekäre Künstlerexistenzen sind Warnungen vor den Gefahren der Digitalisierung. Popmusiker verdienen kein Geld mehr mit Spotify.

Reicht Selbstreflexion, um Pop zu retten?
Wir sollten nicht masochistisch sein. Popmusik muss gegen ihre eigene Tendenz kämpfen in der Warengesellschaft aufzugehen. Sie braucht den Markt, kann aber mittels der eigenen Bedeutung auch gegen die Banalisierung ankämpfen. Immer wenn jemand etwas aufnimmt, das anders klingt, ist das ein Ausdruck dieses Kampfes.

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Ist die aufgenommene Stimme das unverwechselbare Herzstück des Pops?
Der Pop hat vielen Menschen eine Stimme gegeben, die nie gehört worden wären. Die Stimme kann wie ein zweiter Körper sein, ein Medium der Transformation. Da klingt der junge Alex Chilton in „The Letter“ von The Box Tops wie ein alte Schwarze Sängerin. Und wie wundervoll John Lennon im Beatles-Song „Girl“ seine Stimme biegt, lässt sich in keiner Partitur festhalten.

Aber diese Aura verschwindet in modernen Musikproduktionen.
Gesang war in der Popmusik schon immer modelliert. Die Textur von Edith Piafs Stimme wurde mittels bestimmter Mikrofone erschaffen. Das Problem ist nicht Autotune an sich, es ist dessen Normalisierung.

Bald schon könnte es Computer geben, die perfekte Hits schreiben.
Es wäre traurig, wenn Menschen nicht mehr die schöneren Lieder schreiben. Aber selbst in Algorithmen fließt viel Menschliches ein. Der Computer müsste schließlich erlernen, was wir mögen. Ich habe Lieder gehört, die von Künstlicher Intelligenz komponiert wurden: langweiliger, kompakter Mainstream. Lokale künstlerische Dynamiken können noch nicht von Algorithmen abgebildet werden.

Also kann im Pop nur der Mensch den Menschen berühren?
Nein, denken Sie an „2001 – Odyssee im Weltall“, wo der Bordcomputer HAL abgeschaltet wird und zum Abschied singt. Um so brüchiger sein Computerstimme dabei wird, desto berührender. Der Zauber von Popmusik hat viel mit Endlichkeit zu tun.

Auf der anderen Seite bestimmen Algorithmen unseren Musikgeschmack.
Als ich früher CDs kaufte, hasste ich sie oft beim ersten Hören. Aber ich hatte sie ja gekauft und musste ihnen noch eine Chance geben. Streaming erlaubt keine Geduld mehr. Viele Künstler konzipieren ihre Musik immer noch als Album. Wir aber hören ihre Lieder unzusammenhängend, wie sie nicht gedacht waren. Streaming ist zudem eine permanente Einladung zum Multitasking. Musikhören allein reicht nicht mehr.

„Pop kann Kunst und Demokratie versöhnen“

Der Song „WAP“ von Cardi B war ein Sommerhit. Aber alle sprachen nur noch über das Musikvideo und den sexualisierten Text.
Schon die Buggles sangen „Video Killed the Radio Star“. Wir intensivieren das Hörerlebnis oft nicht durch das Sehvermögen.

Sie warnen, dass wir eines Tages unter der Last des Musikarchivs ersticken könnten, und zitieren Nietzsche: „Zu allem Handeln gehört Vergessen“. Wenn Sie einen Knopf hätten, um die Popgeschichte der Menschheit zu löschen, würden Sie ihn drücken?
Oh nein, ich möchte nicht die Vielfalt menschlicher Ausdrücke ausradieren. Aber digitale Kultur, die alles verfügbar macht, kann ein Ballast für Kunstschaffende sein. Ohne Songtexte und mit einer Klassifizierung, die sich meist nicht an der ursprünglichen Veröffentlichung orientiert, ist Spotify für eine Bibliothek nicht sehr ordentlich. Es ist eher eine sehr mächtige kapitalistische Maschine, die Ressourcen ausbeutet, die sie eigentlich nicht besitzt.

Sie schreiben: Wenn Pop einmal ein Königreich war, zerbröselt es jetzt. Wer wird der Nächste auf dem Thron?
Niemand. Früher saßen da Elvis oder Michael Jackson. Heute existieren viele Königreiche. Vielleicht wird eine der nächsten Queens of Pop eine Asiatin? Im Laufe seiner Geschichte ermächtigte der Pop Frauen, Schwarze und Homosexuelle, so viele Menschen und Stimmen. Und das ist seine Stärke: seine Fähigkeit, Demokratie und Kunst zu versöhnen. Doch der Anspruch sollte nie Mittelmäßigkeit sein. Pop darf in seinen Ambitionen aristokratisch bleiben.

Haben Sie Angst, dass Pop irgendwann nur noch als Soundtrack zum Shoppen dient?
Wir haben vor langer Zeit damit begonnen, das Sakrale in der Musik zu tilgen. Früher genoss man großartige Musik nur in der Kirche. Heute können wir Mozarts „Requiem“ im Supermarkt hören. Das Problem ist nicht, dass es „funktionale Musik“ gibt, sondern in welchem sozialen Kontext wir Musik hören – das verändert unsere emotionale Verbindung zu ihr.

Wie hören Sie denn am liebsten Musik?
Mit Kopfhörern in der Dunkelheit. Dann nimmt sie mein ganzer Körper wahr.

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