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Der britische Schrifsteller Robert Harris.

© Bernd Hoppmann

Interview mit Bestsellerautor Robert Harris: „Wenn man Clowns wählt, landet man schnell in einer Tragödie“

Robert Harris hat einen Roman über die V2-Rakete geschrieben. Trump und Johnson hält er für nicht literaturfähig. Ein Gespräch über die Lehren der Geschichte.

Robert Harris, 1957 in Nottingham geboren, gehört zu den erfolgreichsten britischen Schriftstellern. Schon sein Debütroman "Vaterland" (1992) wurde ein internationaler Bestseller. Er spielt 1964 und handelt von einem Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Viele seiner Bücher wurden verfilmt, darunter Enigma und Intrige. Harris ist ein Fachmann für historische Stoffe. In Pompeji und der Cicero-Trilogie beschäftigt er sich mit dem römischen Imperium. Am 2. November erscheint sein Roman "Vergeltung" (Heyne, 368 Seiten, 22 €).

Mister Harris, waren Sie auf der Schule gut in Mathe?
Nein, ich war ein hoffnungsloser Fall. Warum fragen Sie?

Weil Sie in „Vergeltung“ Algorithmen und Raketenflugbahnen erklären. Waren die Recherchen schwieriger als für Ihren Spionagecode-Roman „Enigma“Nein. Ich habe mich durch die Fachliteratur gelesen. Ich bin ein Mathe-Versager, war aber schon immer fasziniert von Menschen, die Genies auf diesem Gebiet sind. Und ich finde die Orte spannend, wo Mathematiker und Ingenieure die Geschichte der Menschheit veränderten. Bletchley Park, wo der Computer erfunden wurde. Peenemünde, wo die Rakete entstand. Und Los Alamos, wo sie die Atombombe entwickelt haben. Die Bedingungen an allen drei Orten waren ähnlich. Die besten Techniker waren versammelt, es gab grenzenlos Geld, alle standen unter enormen Zeitdruck. Die Folgen ihrer Forschung prägen die Welt bis heute.

Was gab den Anstoß, jetzt ein Buch über die V2-Rakete zu schreiben?
Vor vier Jahren bin ich in der „Times“ auf einen Nachruf gestoßen. Eileen Younghusband starb mit 95 Jahren. Sie war als Offizierin der Women’s Auxiliary Air Force zusammen mit sieben anderen Frauen Ende 1944 in die belgische Stadt Mechelen geschickt worden, um beim Kampf gegen die V2 zu helfen. 120 Kilometer weiter, auf der anderen Seite der Front, schossen die Deutsche von der holländischen Küste aus die Raketen nach England.

Aufgabe der Frauen war es, die Flugkurven zu berechnen. Man musste diese Information mit dem Zeitpunkt des Starts verbinden, um den exakten Ort des Abschusses zu berechnen. Wenn das innerhalb von sechs Minuten geschah, hatten die Bomber der Royal Air Force die Chance, die Startrampen anzugreifen. Sie waren mobil, in Wäldern versteckt und mit herkömmlichen Mitteln des Radars so gut wie nicht zu erfassen. Ich dachte sofort: eine faszinierende Geschichte, und die Welt hat nichts davon gehört.

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Ihr Buch spielt im November 1944. Warum glaubten viele Deutsche damals immer noch, den Krieg gewinnen zu können?
Weil sie in den „Wunderwaffen“, die Wernher von Braun ihnen verschaffte, ihre allerletzte Chance sahen. Was absurd war. Die Amerikaner hatten bereits Aachen erobert, die Rote Armee näherte sich Berlin. Für das V2-Programm waren unfassbar viele Ressourcen verschwendet worden. Militärhistoriker haben ausgerechnet, dass die Raketen der deutschen Wirtschaft mehr Geld kostete, als die Amerikaner für ihr Manhattan-Projekt ausgaben. Militärisch war es sinnlos.

 Deutsche V2-Raketen im Jahr 1944, gerichtet auf London.
Deutsche V2-Raketen im Jahr 1944, gerichtet auf London.

© imago

Aber waren die Raketen nicht unschlagbar für die Propaganda?
Sie waren sicherlich die angsteinflößenste Waffen, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte. Erstmals konnte eine Flugwaffe ins Weltall geschickt werden, um ein Ziel in fast 2000 Kilometer Entfernung mit der dreifachen Geschwindigkeit des Schalls zu treffen. Das Problem aus Sicht der Deutschen war allerdings, dass jede Rakete nur einen Sprengkopf von einer Tonne tragen konnte.

Um größeren Schaden in London zu erzeugen, war das viel zu wenig. Die Menschen dort waren sich sicher, den Krieg schon gewonnen zu haben. Und plötzlich gab es diese Science-Fiction-Waffe. Bevor der Überschallknall zu hören war, hatte die V2 schon getroffen. Wer an einem Ort war, der in Schutt und Asche gelegt wurde, hatte keine Chance, in den Luftschutzbunker zu kommen.

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Die Detonation und der Überschallknall folgten direkt aufeinander, wie ein gewaltiges, todbringenden Echo, das an einigen Tagen vier-, fünfmal in London erklang. 20 000 Häuser im Großraum London wurden zerstört, 2700 Menschen starben. Mit Terrorangriffen lassen sich bis heute keine Kriege gewinnen. Aber sie bringen Furcht und Schrecken.

Sie nennen die Raketen „Botschafter eines kommenden Zeitalters“. Leben wir heute in dieser Zukunft?
Gewissermaßen schon. Der Krieg hat sich immer weiter entfernt von den Menschen, die gegeneinander kämpfen. Interkontinentale Raketen können jeden Winkel der Erde erreichen. Drohnen, die per Joystick bedient werden, töten, als wäre der Krieg ein Computerspiel. Früher wurden Schlachten noch mit Handwaffen geführt, später schossen Soldaten mit Gewehren aufeinander, sahen sich dabei an. Das alles änderte sich mit der V2.

Sehen Sie Wernher von Braun als Verbrecher oder Opportunisten?
Für mich ist er ein faszinierender, doppelbödiger Charakter. Sonst würde ich ihn nicht im Roman auftreten lassen. Von Braun hat niemanden selbst getötet, aber er hat systematisch weggekuckt. In Peenemünde hatte er eine ganze Forschungsstadt für die Verwirklichung seines Kindheitstraums vom Flug ins All errichten lassen. Die V2-Rakete war eigentlich noch ein Prototyp, ging dann aber in die Massenproduktion. Von einem Büro in Nordhausen kontrollierte er die Arbeit in Dora Mittelbau, wo KZ-Häftlinge in einem unterirdischen Harz-Stollen die Waffen fertigten. Etwa 20 000 Sklavenarbeiter starben, er muss das mit eigenen Augen gesehen haben. Innerlich belastet hat es ihn offenbar nicht.

Fehlte ihm ein Gewissen?
Von Braun hat einen faustischen Pakt mit Hitler und seinem Militär geschlossen. Er war Mitglied der NSDAP und SS-Sturmbannführer, behauptete aber gegenüber Freunden, das das nichts zu bedeuten habe. Die NS-Ideologie teilte er tatsächlich nicht, er wurde sogar zeitweilig von der Gestapo inhaftiert, weil man ihn für einen Verräter hielt.

Er glaubte, dass Deutschland am Ende des Kriegs völlig zerstört sein würde, ein Land mit nur noch fünf Millionen Einwohnern. Deshalb sicherte er seine Forschungsergebnisse auf Mikrofilmen, um zu den Amerikanern überlaufen zu können. Er stieg zum Nasa-Chef auf und brachte 1969 den ersten Menschen auf den Mond. Die Menschheit hat jemandem den Sprung ins All zu verdanken, der an Kriegsverbrechen beteiligt war. Von Braun verkörpert einen sehr modernen Typus. Sein Leben folgte einem Ziel, für das er alles gab. Erschreckenderweise könnten wir alle ein bisschen so sein wie er.

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Sie nennen im Buch immer wieder Namen von Menschen, die durch die Raketen starben. Wollen Sie ihnen ein Denkmal setzen?
Als am 25. November 1944 ein Woolworth-Kaufhaus in Südlondon von einer V2 getroffen wurde, kamen 160 Menschen ums Leben. Vor allem Frauen und Kinder, die für Lebensmittel anstanden. Einige könnten heute noch leben. Wir sollten uns daran erinnern, dass es erst zwei Generationen her ist, dass in Europa Krieg geführt wurde mit den furchtbarsten Waffen. Das scheinen viele Leute heute vergessen zu haben. Wir glauben, dass der Frieden selbstverständlich sei. Aber das ist er nicht.

Ende des Jahres verlässt Großbritannien die Europäische Union. Wird es ein harter Brexit?
Egal ob harter oder softer Brexit, die Auswirkungen werden enorm sein. Wobei wir uns zu sehr um die Wirtschaft sorgen. Politisch sind die Folgen weitaus fataler. Sechzig Jahre war die europäische Dimension ein zentraler Teil britischen Politik. Das ist vorbei. Unser Land trennt sich von Europa, und wir Briten haben uns noch überhaupt keinen Begriff davon gemacht, was das bedeutet. Das Land wird immer nationalistischer, zieht sich in sich zurück. Was werden wir künftig anfangen ohne das europäische Projekt?

Was ist Ihre Hoffnung?
Derzeit habe ich wenig Hoffnung. In den Institutionen der Europäischen Union steckt eine Weisheit, die wir Briten gerade wegwerfen.

In Ihrem Roman „Ghost“ haben sie Tony Blair karikiert. Wäre Boris Johnson eine gute Romanfigur?
Nein. Es ist schwierig geworden, politische Romane zu schreiben. Weil Leute wie Boris Johnson oder Donald Trump literarisch nicht zu fassen sind. Hätte ein Schriftsteller sie erfunden, würde kein Leser glauben, dass so schrille, ich-bezogene Charaktere jemals in ein Amt gewählt werden könnten. Sie bewegen sich jenseits der Satire, agieren wie Fernsehentertainer, flüchten sich in Witze, wenn es ernst wird. Zu Johnson und Trump fällt mir nichts ein.

Vielleicht in zwanzig Jahren?
Möglicherweise. Dann würde es vielleicht eine Geschichte über einen Nero unserer Tage.

Als Komödie oder Tragödie?
Die Versuchung ist groß, in dem, was gerade passiert, eine Komödie zu sehen. Aber es wäre falsch. Schließlich sind durch die Inkompetenz von Trump und Johnson zehntausende Menschen gestorben. Wenn man Clowns wählt, landet man schnell in einer Tragödie.

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