zum Hauptinhalt
Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin. Arundhati Roy, 55.

© Chiara Goia/Verlag

Interview mit Arundhati Roy: „Ich bin ein Baum mit tiefen Wurzeln“

Die Autorin Arundhati Roy über die Situation der Frauen in Indien, das Kastenwesen, Edward Snowden und ihren neuen Roman.

Von Barbara Nolte

Frau Roy, danke, dass Sie sich Zeit genommen haben, obwohl Sie, wie aus Ihrem neuen Roman herauszulesen ist, von Journalisten nicht besonders viel halten…

So pauschal stimmt das nicht. In Indien steckt der Journalismus in einer schweren Krise. Das Grundproblem sind die Besitzverhältnisse der Medien, die oft zu Konzernen gehören. Nehmen Sie das Unternehmen Reliance: Neben Dutzenden Nachrichtenkanälen betreibt es petrochemische Anlagen, Finanzinstitute, Mobilfunk, sogar Bildungseinrichtungen.

Im Roman schreiben Sie von „nicht ausgebildeten, hervorragend aussehenden jungen Reportern, die dringliche leere Fragen“ stellen. Und eine der Hauptfiguren, ein Journalist, der sogar als Experte herumgereicht wird, ist in Wahrheit eine Marionette des Nachrichtendienstes.

In Indien ist es weit verbreitet, dass Journalisten vom Geheimdienst manipuliert werden. Es gibt aber auch großartige Reporter. Gauri Lankesh war so eine, sie wurde letzte Woche in Bangalore vor ihrem Haus erschossen. Haben Sie davon gehört?

Nur als Kurzmeldung: Dass eine 55-jährige Journalistin ermordet worden war, die den hinduistischen Nationalismus kritisiert hatte. Kannten Sie sie?

Wir standen über Mail und SMS in Kontakt. Es kommt oft vor, dass auf Menschen, die etwas gegen die hinduistische Rechte sagen, Anschläge verübt werden. Doch sie haben jetzt erstmals eine Frau umgebracht.

Im Hinduismus zählen Frauen weniger als Männer. Waren kritische Frauen bislang weniger gefährdet, weil sie auch als Terrorziel weniger wert sind?

Nein, in Indien ist es sicherer, eine Kuh zu sein als eine Frau.

(Roy zieht ihr Handy aus der Tasche.)

Hier, auf Twitter, kommentiert einer dieser rechten Nationalisten den Mord an Lankesh: „Kein bisschen Mitleid mit dieser Schlampe. Sie hätten ihren Körper mit Kugeln durchsieben sollen“, schreibt er. Darunter setzte er einige Namen, die „jetzt an die Spitze der Liste“ gehörten. Sehen Sie, da, an zweiter Stelle, stehe ich!

Wie gehen Sie dagegen vor?

Darum geht es mir nicht. Der Tweet wirft ein Schlaglicht auf das gesellschaftliche Klima in Indien. Solche Tweets kursieren zu Tausenden im Internet.

Sie sind als linke Aktivistin, die weltweit Gehör findet, in besonderer Gefahr.

Ich mag das Wort Aktivistin nicht.

Wieso nicht?

Als ich durch meinen ersten Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ bekannt geworden war, hatte ich auf einmal die Rolle, die große Schriftstellerin eines Landes zu sein, in dem viele Menschen nicht lesen können, ja, in dem viele nicht mal genug zu essen haben. Ich fragte mich, wie ich die Rolle ausfüllen könnte und fing an zu reisen – zum Beispiel zu den Ureinwohnern Zentralindiens. Die Regierung hatte ihr Land an Konzerne übertragen. Das wollten sie sich nicht gefallen lassen. Im Fernsehen hieß es: Die Ureinwohner seien Terroristen. Ich verbrachte vier Wochen mit ihnen im Wald. Anschließend schrieb ich einen Essay darüber, um zu zeigen: Das sind die Menschen, die ihr Terroristen nennt! Ich bin immer als Schriftstellerin unterwegs, auch wenn das Bild vom Schriftsteller mittlerweile ein anderes ist.

Welches denn?

Die Schriftsteller sind domestiziert worden. Von uns wird erwartet, ein perfektes Produkt herzustellen – nach dem Schema, das in Seminaren für Kreatives Schreiben gelehrt wird. Man muss in sechs Sätzen sagen können, von was ein Roman handelt. Doch für ein Buch wie „Das Ministerium des äußersten Glücks“ kann man nicht einfach ein Exposé schreiben, das man dann abarbeitet. Es handelt von Liebe, Kasten, Kaschmir, Intimität, Kummer, vielem anderen. Das Politische spielt da immer mit rein.

Sogar der 11. September ist als Randnotiz in der Handlung mit drin. Warum?

Weil der Anschlag unseren Teil der Welt stark verändert hat. In Indien errang 1998 die hindu-nationalistische Partei BJP die Macht. Die ganze Islamophobie, die nach dem 11. September aufkam, war ein Geschenk für sie. Schnell hieß es, dass Muslime Terroristen sind. Das Massaker in Gujarat, bei dem tausend Menschen, die meisten Moslems, umgebracht wurden, ereignete sich im Jahr darauf.

Das Massaker kommt im Roman vor, auch der Kaschmir-Konflikt. Indiens Gräueltaten. Sprachlich ist das Buch farbig, voller Lokalkolorit, von einem „subversiven Heimatroman“ war in Rezensionen die Rede.

Mein Stil wird häufig als „magischer Realismus“ bezeichnet. Ich antworte darauf in der Regel: Nur weil es nicht deine Realität ist, ist sie noch lange nicht magisch. Den Friedhof, auf dem eine meiner Figuren lebt, gibt es wirklich in Delhi.

Sie können mit dem Begriff Heimatroman nichts anfangen.

Doch, insofern ich versucht habe, diesem Buch die Struktur einer Stadt zu geben.

Die Ihrer Heimatstadt Delhi?

Ja, einer indischen Stadt. Man plant sie, sie plant sich selbst um. Auf der Grundlage macht man einen neuen Plan und so weiter. Ich habe Architektur studiert, und ich wollte ein Universum schaffen, durch das es viele Wege gibt. Formal ist mein Buch von Schnellstraßen und Gassen durchzogen. Man muss mal hier, mal dort abbiegen. Eine Stadt lernt man ja auch nicht kennen, wenn man nur auf den Hauptstraßen bleibt.

Was verbinden Sie mit Heimat?

Starke Gefühle. In Kerala, wo ich herstamme, werden sie durch die Landschaft, das Essen geweckt. Doch im Dorf, in dem ich aufwuchs, erlebte ich eine geschlossene Gesellschaft, die sich mir gegenüber feindselig verhielt. Meine Mutter hatte einen Mann von außen geheiratet und war von ihm geschieden. Delhi ist jetzt mein Zuhause. Ich bin ein Baum mit tiefen Wurzeln.

„Es ist ein ökonomischer Totalitarismus entstanden“

Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin. Arundhati Roy, 55.
Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin. Arundhati Roy, 55.

© Chiara Goia/Verlag

In Europa gibt es den Schriftsteller als Flaneur, der durch die Stadt streift. So wie Sie das gesellschaftliche Klima beschreiben: Ist das in Delhi für Sie zurzeit unmöglich?

Ich bin gut im Verkleiden. Es gibt Viertel wie die Altstadt, in denen ich sicher bin.

Weil Muslime die Altstadt dominieren?

Ja, die Menschen wissen dort, dass ich gegen den hinduistischen Nationalismus anschreibe.

Ihr erster Roman „Der Gott der kleinen Dinge,, der auf eine Liebesgeschichte zwischen eine höher gestellten Frau und einem Unberührbaren zuläuft, hat die Brutalität des indischen Kastenwesens ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Haben sich die Grenzen zwischen den Kasten inzwischen aufgeweicht?

Überhaupt nicht. Man kann auch gesetzlich wenig ausrichten, weil es sich um eine religiöse Praxis handelt, die auch Moslems, Christen und Sikhs befolgen.

Sie selbst sind ja Christin und schilderten gerade, wie Sie darunter gelitten haben.

Nein, ich litt nicht darunter! Die syrischen Christen, denen die Familie meiner Mutter angehört, sind privilegiert. Wenn ein Mitglied jemanden von außerhalb heiratet, wie meine Mutter es tat, ist man draußen. Kein syrischer Christ würde mich heiraten, weil ich keine reine syrische Christin bin. Aber das fand ich nie schlimm. Ich wollte ja auch keinen von denen heiraten. Ich wollte nur weg.

Vor zwei Jahren haben Sie Edward Snowden in Moskau besucht, der bei rechten Amerikanern als Vaterlandsverräter gilt, eine ähnliche Rolle, die Sie bei rechten Indern haben. Wie war der Austausch?

Ich habe nur Daniel Ellsberg begleitet, der in den siebziger Jahren die Pentagon-Papers enthüllt hat. Snowden und er tauschten sich darüber aus, wie sich die CIA seitdem verändert hat. Was Snowden betraf, war ich erst skeptisch. Ich fragte ihn, warum er bei der CIA angeheuert hat. Wie konnte er nur den Wunsch hegen, im Irakkrieg mitzukämpfen?

Was sagte Snowden darauf?

Dass er jung war, keine Ahnung hatte. Überdies stamme er aus einer Familie, in der viele für die Regierung arbeiten.

Sie gelten auch als scharfe Kritikerin der USA und ihrer Wirtschaftsmacht. Was ist für Sie das größere Übel: der Hinduismus mit seinem Kastensystem oder der Kapitalismus?

Beides geht Hand in Hand. In den neunziger Jahren hat Indien seine Märkte geöffnet. Damals war allenthalben von Supermacht die Rede, von Wachstum, neuer Mittelklasse. Es ist ein ökonomischer Totalitarismus entstanden. Arme werden aus ihren Häusern, Dörfern, Städten geworfen. Wenn man dagegen etwas sagt, heißt es, dass Fortschritt eben nicht umsonst zu haben sei. Gerade bricht das Wachstum ein. Mit der wirtschaftlichen Verzweiflung wächst der Nationalismus.

Der amtierende indische Premier Narendra Modi gehörte lange sogar einer radikal-hinduistischen Kaderorganisation an, dem RSS…

…wie viele andere aus der Regierungspartei BJP. Der RSS ist inspiriert von Mussolini und Hitler. Zurzeit ist häufig zu lesen, dass Muslime totgeschlagen werden nur wegen Gerüchten, dass sie Rindfleisch gegessen hätten. Alles ist erschreckend.

Haben Sie mal darüber nachgedacht, Ihr Land zu verlassen?

Nein. Ich bin ja nicht die einzige, die mit der Gefahrenlage umgehen muss. Einmal habe ich mich nach London abgesetzt. Damals waren an vielen Universitäten Unruhen ausgebrochen. Im Fernsehen hieß es, ich sei eine derjenigen, die dafür verantwortlich sind. Mein neuer Roman befand sich in der Endphase, ich wollte ihn abschließen. Aber in London hatte ich ein derart schlechtes Gewissen, mich davongemacht zu haben, dass ich nach nur neun Tagen wieder heimgefahren bin.

Das Gespräch führte Barbara Nolte

Zur Startseite