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Salvatore Scarpitta: "Double Halter" aus dem Jahr 1961

© Galerie Natali Seroussi, Paris

Interview Ingvild Goetz: „Sammeln kann gefährlich werden“

Ingvild Goetz zählt zu den größten deutschen Sammlerinnen. Mit ihrer Kunst lebt sie in München, Museen profitieren von ihrer Großzügigkeit. Ein Gespräch zum 80. Geburtstag.

Die Münchner Sammlerin Ingvild Goetz
Die Münchner Sammlerin Ingvild Goetz

© Herlinde Koelbl

Frau Goetz, Sie sammeln seit über 50 Jahren Gegenwartskunst. Wie unterscheidet man Zeitgeist von Kunst für die Ewigkeit?

Bis man das unterscheiden kann, muss man viel gesehen haben. Man muss Künstler im Atelier treffen, Kataloge und Bücher lesen, Museen und Messen besuchen. Irgendwann erlebt man den ersten Moment eines Déjà-vu. Der ist wichtig. Denn ab jetzt wird man immer wieder Werken von Künstlern begegnen, die man als epigonal erkennt. Wenn man dann eine Arbeit entdeckt, bei der dieses Déjà-vu entfällt, hat man wahrscheinlich einen Künstler gefunden, dessen Arbeit Zeitgeist und Trends überdauern werden. Das ist jemand mit einem neuen, unverwechselbaren Stil – wie van Gogh, Francis Bacon, Andy Warhol. Oder für mich auch Neil Jenney.

Den amerikanischen Maler eines Neuen Realismus kennen in Europa nur wenige.

Dabei ist er phänomenal. Rast mit dem Pinsel über die Leinwand, und entweder ist das Bild für ihn richtig, oder er zerstört es. 1970 habe ich ihn zum ersten Mal in seinem Atelier besucht. Wie im Rausch wählte ich aus: „Das und das und das will ich haben!“ Daraufhin meinte Jenney trocken: „Ich verkaufe nichts.“ Tatsächlich verkauft er nur, wenn er in Not ist. Sein Realismus ist eine Art der Wahrheitssuche, und darin ist er radikal. Zum Glück besitze ich heute die eine oder andere Arbeit.

Es gibt noch Künstler, die sich dem Markt verweigern?

Außer ihm kenne ich nur noch Thomas Schütte. Einmal wollte ich in einer Galerie eine kleine Installation erwerben. Da taucht Schütte wie aus dem Nichts auf: „Was, diese Arbeit habt ihr noch? Die mag ich nicht, die wird verschrottet!“ Als ich sagte, ich wolle sie kaufen, war die Antwort: „Keine Chance!“

Radikalität ist auch ein Kriterium für zeitlose Qualität?

Radikalität, aber nicht als Attitüde, sondern als innere Notwendigkeit. Als eine besondere Sensibilität. Ich war immer fasziniert von Künstlern, die sich mit Tabus auseinandersetzen, mit Seelenqualen und dem kollektiven Unterbewussten. Zu ihnen zählen viele Frauen, von denen ich jeweils umfangreiche Werkkomplexe habe.

Zum Beispiel Tracey Emin?

Ja. Bei ihr sind Kunst und Leben identisch. Sie ist Weiblichkeit pur. Männer, aber auch Frauen können mit ihren Arbeiten oft nicht umgehen. Sie sind ihnen zu intim oder zu obsessiv. Auch Louise Bourgeois, Yayoi Kusama, Mona Hatoum, Nan Goldin, Sarah Lucas, Cindy Sherman und Kiki Smith zählen zu diesen Künstlerinnen. Für mich sind sie wie Stachel im Fleisch. Und den wollen viele nicht spüren.

Es gibt auch existenzialistische Künstler wie Mike Kelley oder Matthew Barney.

Beide gehören zu meinen Lieblingskünstlern. An Matthews 1992 entstandenen „Cremaster“-Zyklus, mit dem er berühmt wurde, hat mich der Reichtum an Symbolen und Mythen begeistert. Er ist ein souveräner Perfektionist, deshalb arbeitet er langsam. Auf seine Weise verweigert auch er sich dem Markt.

Das ist bemerkenswert, denn heute jagt ein Hype den nächsten.

Der Markt wäre nicht so spinnös, wenn die Künstler ihn nicht bedienen würden. Und dann werden die Arbeiten oft leider schlecht.

Was halten Sie von der gegenwärtigen NFT-Kunst-Hysterie?

Mich interessiert dieser Internet-Hype nicht. Problematisch an der zunehmenden Virtualisierung finde ich, dass man offensichtlich des Kaisers neue Kleider für Unsummen verschachern kann. Die Käufer und die Unternehmen sehen nicht hin – vielleicht wollen sie es auch nicht, wie im Fall von Christie’s. Diese Rekordarbeit ...

… „Everydays: The First 5000 Days“ von Beeple alias Mike Winkelmann. Sie hat über 69 Millionen Dollar gebracht.

Dabei ist sie nichts anderes als eine in Teilen rassistische und sexistische Collage aus 5000, bei der Plattform Tumblr hochgeladenen Bildern. Inhalte scheinen nicht zu interessieren. Viele Leute schauen heute auf die Namen von Galeristen oder Künstlern. Je prominenter, desto schneller wird gekauft – was, ist sekundär.

Die Digitalisierung verändert auch die Definition dessen, was Sammeln ist.

Da ist eine Parallelwelt entstanden. Auf der einen Seite sind die klassischen Sammler, die viel Zeit mit Künstlern und Galeristen und in Museen verbringen, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Und daneben gibt es die Zocker, die Werke als Labels kaufen.

Dabei kann Kunstsammeln beides sein: Leidenschaft und Investment.

Man sollte jedenfalls nicht unter dem Aspekt kaufen: Das Werk muss teurer werden. Denn dann kommt der große Frust. Es gibt nun mal Werke, die steigen nicht im Wert. Ich bin trotzdem von ihnen überzeugt und stehe zu ihnen. Ohne die Leidenschaft, ein Werk zu lieben, egal ob es im Wert steigt oder nicht, kann Sammeln gefährlich werden.

Setzt Leidenschaft ein Eintauchen in die Materie voraus?

Genau! Das Gleichgewicht zwischen Leidenschaft und rationaler Entscheidung zu halten, ist die Herausforderung. Es geht um langfristige Konzepte und Perspektiven. Da sind wir wieder beim déjà vu. In jeder Generation gibt es Salonmalerei, Kunst für den Geschmack einer Ära. Franz von Lenbach und Egon Schiele: Für den ersten gab man Unsummen aus, der zweite wurde übersehen. Heute ist es genau umgekehrt.

Das ist das Problem mit dem Argument des Gefallens. Es bestätigt nur die eigene Wahrnehmung.

Achtung vor Kunst, die gefällig ist! Neue Kunst bricht mit den Sehgewohnheiten. Sie irritiert, verstört, berührt. Es kostet Mühe, sich ihr zu nähern. Sie ist radikal, wie schon gesagt. Umgekehrt ist jedoch längst nicht alles, was provoziert, gleich gute Kunst. Es geht darum, eine Leidenschaft für die Kunst zu entwickeln und nicht nur für die Preissteigerung.

Weil wir sonst einen Markt aus wenigen Großgaleristen und vielen kleinen Galeristen am Existenzminimum erleben?

In allen Bereichen geht es nicht ohne Vielfalt. Es gibt so großartige Entdecker-Galerien. Aber dann kommen die Power Player des Kunstmarktes und saugen ihnen die vielversprechendsten Künstler weg. Weil die das Spiel leider mitspielen. Besorgniserregend finde ich, dass sich diese Entwicklung beschleunigt. Manche der Großen wie David Zwirner oder Hauser & Wirth versuchen gegenzusteuern, indem sie sich unter anderem an der Finanzierung von Standmieten kleiner Galerien auf Messen beteiligen.

Um der Diversität willen eröffnet Zwirner wohl bald eine Galerie mit einem Allblack-Team in New York. Wie finden Sie seine Initiative?

Da bin ich hin- und hergerissen. Im ökonomischen Bereich nennt man das Greenwashing. Das ausschlaggebende Kriterium ist für mich die Qualität eines Werks, nicht die Hautfarbe oder die Konfession. Bei einem Essen im Museum of Modern Art in New York saß ich neben amerikanischen Sammlern. Deren erste Frage war: „Welche jüdischen Künstler haben Sie in Ihrer Sammlung?“ Ich war sprachlos – weil ich so nicht auswähle. Wenn ich mich für Künstler wie Mark Bradford, Rashid Johnson oder Ellen Gallagher entscheide, dann sicher nicht, weil sie schwarz, sondern weil sie große Künstler sind.

Die neue Norm politischer Korrektheit ...

Das kann man wohl sagen. Seit 15 Jahren engagiere ich mich philanthropisch. Ich unterstütze arme und schwache Menschen, traumatisierte, geflüchtete Frauen und Kinder. Unter anderem finanziere ich ein soziales Projekt in einem Münchner Problemviertel. Die Zustände dort sind desolat. Es gibt viel häusliche Gewalt. Doch wenn man diese Thematik anspricht, wird man manchmal sogar beschimpft. So wird Hilfe erschwert oder sogar unmöglich.

Sie spielen auf eine Rhetorik der Diffamierung an, die sich immer weiter verbreitet?

Sie gefährdet unsere Demokratie.

Kunst war immer eine humanisierende Kraft – ist sie das noch?

Davon bin ich überzeugt. Die Künstler der Arte Povera wie Mario Schifano machten sozialkritische Kunst ohne erhobenen Zeigefinger. Sein Gemälde „Propaganda“ entstand Mitte der siebziger Jahre und zeigt einen Ausschnitt des Coca-Cola-Logos als Kritik am amerikanischen Kapitalismus. Gleichzeitig ist es ein großartiges, expressiv-malerisches Bild. Oder die Installationen mit Bonbons von Félix González-Torres: „Untitled (Ross)“ hat das Gewicht seines 1991 an Aids verstorbenen Partners. Jeder Betrachter soll sich Bonbons nehmen, das Gewicht des Bonbonstapels schwindet. Gibt es eine poetischere Auseinandersetzung mit dem Tod?

Künstler wie ihn haben Sie persönlich kennengelernt?

Das war mir immer wichtig. Wenn ich früher in New York unterwegs war, ging ich am Tag in fünf, sechs Ateliers. Abends war ich dann erfüllt und erschöpft von all diesen Gedanken- und Gefühlswelten. Von Künstlern habe ich viel gelernt, dafür bin ich sehr dankbar.

Wen haben Sie nie gesammelt?

Jeff Koons. Aber ich bewundere ihn. Er ist für mich der Eulenspiegel der Kunst und Gesellschaft. Er führt den Leuten ihre Doppelmoral vor, besonders den prüden Amerikanern. Sie hängen sich seine Serie „Made in Heaven“, die ihn und Cicciolina beim Liebesspiel zeigt, ins Wohnzimmer und sagen, das dürfen wir jetzt, denn es ist Kunst. Ist das nicht das Konzept eines genialen Verführers?

Allerdings! Ihre Sammlung mit über 5000 Werken haben Sie 2013 der Pinakothek der Moderne, dem Haus der Kunst und dem Neuen Museum Nürnberg als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt, 375 Werke der Medienkunst dem Freistaat Bayern geschenkt. Was wird mit diesem Vermächtnis geschehen?

Ich kann mir vorstellen, die Dauerleihgabe zu verlängern und ebenso weitere Schenkungen an den Freistaat Bayern. Aber ich sondiere auch Anfragen von anderen Museen. Auf jeden Fall möchte ich das Vermächtnis meiner Sammlung selbst regeln. Enttäuschend finde ich, dass man Topsammlungen wie die von Erika Hoffmann-Koenige oder Friedrich Christian Flick aus Berlin abziehen ließ.

Hat sich Ihr Blick auf Berlin als Kunststandort verändert?

Nach der Wende war Berlin eine swinging City, die das Zeug zur Metropole gehabt hätte. Inzwischen hat sie dieses Flair verloren. Künstler verlassen die Stadt eher, als hierherzukommen. Die kulturelle Vielfalt ist verloren gegangen.

Wie blicken Sie auf Ihren 80. Geburtstag am 5. Mai?

Es ist eine Zahl. Ich hatte nie ein Problem mit meinem Alter. Es ist für mich zeitlos. Aber es bedeutet auch einen Akt der Willenskraft. Ich möchte gesund und aktiv bleiben, meine Neugier behalten, meinen Wissensdurst. In Bewegung bleiben, physisch, emotional, geistig.

Ihr Herzenswunsch für die kommenden Jahre?
Dass wir die überall wachsenden Aggressionen in dieser Welt abbauen. Wir müssen wieder anteilnehmender und empathischer miteinander umgehen.

Das Interview führte Eva Karcher

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