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Rennen für die Freiheit. Demonstration der Studentenbewegung „Yo Soy 132“ in Mexiko City. Foto: Reuters

© REUTERS

Interview: Der mexikanische Frühling

Der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro spricht über die Proteste gegen Wahlbetrug und Drogenkrieg in seinem Land.

Señor Villoro, aus den mexikanischen Präsidentschaftswahlen ist Enrique Peña Nieto als Sieger hervorgegangen: ein gutaussehender 46-Jähriger mit dem Image des idealen Schwiegersohns.

Hinter der Fassade verbirgt sich etwas anderes. Es waren schmutzige Wahlen. Es gab Stimmenkauf, Fälschung von Wahlzetteln und Androhung von Gewalt. Es wurden schnell Fakten geschaffen. Eine Freundin von mir leitete ein Wahllokal in Mexiko-Stadt. Als sie gerade merkte, dass in der Wahlurne zwölf Stimmzettel mehr lagen, als auf ihrer Stimmliste verzeichnet, präsentierte die Wahlkommission Peña Nieto im Fernsehen schon als Wahlsieger. Und das drei Tage vor dem Ende der endgültigen Auszählung. Ein Freund von mir ist Textilfabrikant. Er berichtete, dass seine Arbeiter Lebensmittel für ein Kreuz bei der PRI erhielten. Es wurden Wahlurnen gestohlen, und man karrte Indigene zum Wahllokal, damit sie die PRI wählen. Das sind nur einige Beispiele für eine Sauerei, deren Spuren im ganzen Land zu finden sind.

Dennoch haben auch Millionen Mexikaner frei für Peña Nieto votiert.

Das ist das Paradoxe. Peña Nieto ist der Kandidat der PRI, der Partei der Institutionalisierten Revolution. Sie beherrschte Mexiko zwischen 1929 und 2000 durch Korruption, Einheitsgewerkschaften und militärische Gewalt. Viele Menschen sehnen sich offenbar nach dieser diktatorischen Ordnung zurück. Schuld daran ist der Drogenkrieg des scheidenden Präsidenten Felipe Calderón von der liberalkonservativen PAN. Er hat 80 000 Tote und 30 000 Verschwundene zu verantworten. Die Mexikaner wollen Ruhe und Ordnung, um jeden Preis. Dafür steht die PRI. Sie ist wie ein großer Bruder, der dich zwar haut, aber auch beschützt.

Finden Sie es als Schriftsteller beschämend, dass im Land von Juan Rulfo und Octavio Paz ein Mann an die Macht kommt, der offenbar nicht liest?

Mexiko hat große Schriftsteller und geistig kleine Politiker. Das ist ein Grund, warum unser so reiches Land in Armut versinkt. Aber Peña Nieto ist intellektuell noch minderbemittelter als andere Präsidenten. Auf der Buchmesse von Guadalajara konnte er keine drei Buchtitel nennen und verwechselte Carlos Fuentes mit Enrique Krauze.

Fuentes sagte, dass Peña Nieto zwar das Recht habe, seine Bücher nicht zu lesen, aber nicht das Recht, das Land zu regieren.

Mich beunruhigte, dass Peña Nieto so tat, als sei nichts passiert. Ein Politiker muss kein Spezialist für jedes Thema sein. Aber er muss in der Lage sein, sich einzuarbeiten und zu korrigieren. Peña Nieto hat zwei Eigenschaften offenbart, die kombiniert schrecklich sind: Ignoranz und Arroganz. Er weiß, dass er nichts weiß, aber es ist ihm egal.

Immer mehr Mexikaner protestieren gegen den Wahlbetrug. Viele finden sich in der Bewegung „Yo Soy 132“ zusammen. Erleben wir einen mexikanischen Frühling?

Es ist zumindest eine studentische Bewegung entstanden, die sich im Internet verständigt. Aber sie beeinflusst lediglich die urbane Mittelschicht, weil in Mexiko nur ein Drittel der Bevölkerung einen Internetanschluss hat. „Yos Soy 132“ sorgt dennoch für frischen Wind, weil ein neues Konzept von Demokratie vorgelebt wird. Statt eines repräsentativen Systems brauchen wir ein partizipatives. Die mexikanischen Politiker tun nach den Wahlen, was sie wollen. Felipe Calderón etwa begann seinen Krieg gegen die Drogenkartelle elf Tage nach Amtsantritt, ohne dass er im Wahlkampf ein Wort darüber verloren hätte. „Yo Soy132“ hat nun die Idee einer ständigen Bürgeraufsicht über die Regierung.

Octavio Paz bezeichnete die PRI als „Philanthropischen Menschenfresser“. Mario Vargas Llosa sprach von der „perfekten Diktatur“. Peña Nieto versucht seine Partei von diesem Image zu befreien.

Das ist Rhetorik. Die PRI ist eine verbrecherische Gruppe geblieben. Schauen Sie sich ihre Gouverneure in den Bundesstaaten an. Tomás Yarrington in Tamaulipas gehört zur Drogenmafia. Mario Marín in Puebla beschützt ein Netzwerk von Päderasten. In Oaxaca unterdrückt Ulises Ruiz mit seinem Polizeiapparat die Bevölkerung und klaut Steuergelder. Die Erneuerung der PRI ist eine Lüge. Aber diese Herren bedienen die Sehnsucht der Menschen nach der alten Ordnung. Ich habe ein Graffito gesehen, das die Situation gut beschreibt: „Weg mit den Unfähigen! Her mit den Korrupten!“

Welche Rolle spielt das Fernsehen in Mexiko? Sie sprechen von einer Telekratie.

Es gibt in Mexiko zwei Konsortien, Televisa und TV Azteca. Sie verbünden sich immer dann, wenn es darum geht, ihre marktbeherrschende Stellung zu verteidigen. Beide glauben, dass ihre Interessen bei der PRI am besten aufgehoben sind. Die PRI wiederum erkor Peña Nieto zu ihrem Kandidaten, weil er telegen ist. Also schloss man einen Pakt: Televisa verpasste Peña Nieto das Image eines Seifenoper-Kavaliers, was gut passte, weil er mit einem Telenovela-Sternchen aus dem Hause Televisa verheiratet ist. Ihm wurde mehr Sendezeit eingeräumt als seinen Rivalen. Es wird zu überprüfen sein, wie viel Geld an Televisa geflossen ist. Das eigentliche Problem ist aber, dass wenige Mexikaner lesen. Für die Mehrheit entsteht die Welt auf dem Bildschirm.

Wie wird Peña Nieto mit den Drogenkartellen verfahren?

Unter der PRI herrschte immer relative Ruhe, weil die Drogenmafia straffrei agieren durfte. Ich denke, Peña Nieto wird die Kartelle wieder gewähren lassen und für eine Aufteilung der Märkte sorgen. Wenigstens wird das Land dann nicht mehr von Kadavern bedeckt sein.

Man sollte glauben, dass die Linke in dieser Situation gute Chancen hätte. Warum wurde die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) wieder nur Zweiter?

Die PRD ist eine antiquierte Linke, unfähig zur Selbstkritik und mit Tendenzen zur Selbstzerfleischung. Sie hat keine Vision für das Land. Es gibt in Mexiko 52 Millionen Arme und ein Dutzend Billionäre. Unter ihnen: Carlos Slim, den ein Telekom-Monopol zum reichsten Mann der Welt gemacht hat. Wegen ihm zahlen die Mexikaner die höchsten Tarife der Welt. Das Land könnte also eine moderne Linke gut gebrauchen.

Das Gespräch führte Philipp Lichterbeck.

Juan Villoro, 55, ist mexikanischer Journalist und Schriftsteller. Auf Deutsch sind von ihm erschienen „Das Spiel der sieben Fehler“ und „Die Augen von San Lorenzo“ (beide DVA).

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