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Die lettische Nationalbibliothek in Riga.

© Janis Dripe/dpa

Internationaler Bibliothekstag: Erinnerung bewahren, Neugier stillen

Wie baltische Bibliotheken mit der digitalen Herausforderung umgehen. Ein Besuch in Riga und Vilnius.

Digitalisierung gilt als Gebot der Stunde. Die digitale Revolution geschieht jetzt, vor aller Augen, und erfasst alles und jeden. So auch die Bibliotheken. Sie wissen, dass sie mit ihrem analogen Angebot – den Büchern und „Medieneinheiten“ im Bestand – künftig nur noch durchdringen werden, wenn es zugleich digital verfügbar, mindestens aber digital auffindbar ist.

So ist denn der dieser Tage vom Deutschen Bibliotheksverband veröffentlichte „Bericht zur Lage der Bibliotheken 2018/ 2019“ ein einziger Appell, die Bibliotheken in jeder Hinsicht in den Digitalisierungsprozess einzubeziehen. Deutschland hinkt hinterher. Entsprechend aufmerksam schauen die Fachleute aufs Baltikum, das auf dem digitalen Weg weit vorangeht.

Bei einer Informationsreise des Deutschen Bibliotheksverbandes im Rahmen der Kampagne „Netzwerk Bibliothek“ nach Lettland und Litauen kamen die Strategien und Handlungsschritte zur Anschauung, mit denen kleine und große, lokale wie nationale Bibliotheken der digitalen Herausforderung begegnen.

Digitalisierung des nationalen Kulturerbes

Bereits 1988, noch zu Sowjetzeiten, erging die heimliche Anfrage an Gunars Birkerts, das Gebäude einer lettischen Nationalbibliothek zu entwerfen. Dem im amerikanischen Exil lebenden großen alten Mann der lettischen Architektur kam ein heimatliches Märchen in den Sinn – und er entwarf, so sehen es seine Landsleute, das legendäre „Lichtschloss“, das aus der Tiefe eines Sees auftauchen sollte, sobald Lettland ein eigener Staat geworden sei. Nachdem Lettland 1991 gemeinsam mit den beiden anderen baltischen Republiken seine Souveränität wiedererlangt hatte, wurde der Bau verwirklicht, mit Kosten in Höhe von gut 200 Millionen Euro das größte öffentliche Bauvorhaben der jungen Republik.

Vergangenheit und Zukunft gehen zusammen beim Projekt der Digitalisierung des nationalen Kulturerbes. Der Buchbestand der Bibliothek bildet einen Teil dieses Erbes, seine Digitalisierung dient eben nicht nur den praktischen Zwecken der Erschließung im Internet. Die lettische Sprachgemeinschaft ist mit 1,7 Millionen Muttersprachlern sehr überschaubar, und die Bewahrung der Sprache und ihrer Zeugnisse spielt für die nationale Identität eine herausragende Rolle.

Skandinavien liegt vorn, Deutschland hinkt hinterher

Die Digitalisierung erschließt allen Bibliotheken neue Aufgaben und neue Tätigkeitsbereiche. Als Bewahrer des schriftsprachlichen Erbes, ursprünglich allein in seiner physischen Form von Manuskripten und Büchern, sind Bibliotheken gegebene Akteure bei der Bewahrung des kulturellen Erbes. Zwischen Groß und Klein gibt es hinsichtlich der Digitalisierung keine fundamentalen Unterschiede. Gerade öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken oder auch Museen sind dazu berufen, den Grundgedanken der gleichberechtigten Teilhabe am Datenkosmos mit ihrer Arbeit zu festigen, von ihrer ökonomischen Stellung als not-for-profit-Institutionen ganz abgesehen.

Die hervorragende Ausstattung der baltischen Länder – Estland ist ebenso zu nennen – mit WiFi, Breitband, flächendeckender Versorgung und öffentlich zugänglichen Terminals ist bekannt. Zumal in den Bibliotheken, die Anlaufstellen sind für jedermann. Eine Grafik, die beim Besuch der hervorragend renovierten Litauischen Nationalbibliothek in Vilnius an die Wand des Konferenzraumes geworfen wurde, machte die Unterschiede innerhalb Europas und den Rückstand Deutschlands, gemessen am prozentualen Anteil der Bibliotheksbenutzer, deutlich. Dabei werden die drei ersten Plätze übrigens von skandinavischen Ländern belegt, noch vor den baltischen.

Gedruckte Neuzugänge werden weniger, digitale nehmen zu

Die Nationalbibliothek in Vilnius befindet sich längst in jenem Transformationsprozess, den Direktor Renaldas Gudauskas in nüchternen Worten beschreibt: „Wir verstehen die Bibliothek als Quelle von Aktivitäten, nicht als Aufbewahrungsort für Dinge. Ich sehe die Bibliothek als einen Prozess – den der Transformation von Big Data sowie als Plattform für soziale Kommunikation.“ Der Anteil gedruckter Bücher, die dem Haus als Pflichtexemplare zugehen, nimmt wie überall zugunsten elektronischer Publikationsformen kontinuierlich ab, aber das ist nicht das Entscheidende: sondern dass die Bibliothek, so ihr Motto, „Vom Nutznießer zum Anführer“ wird. Die Wahrnehmung der Büchereien hat sich generell von „Büchern“ zu „Information“ verlagert, und Bibliotheken gelten offiziell als „nicht-formale Bildungseinrichtungen“.

Selbstverständlich ist die Nationalbibliothek führend an der Erstellung des digitalen Kulturerbes beteiligt. Das Virtual Electronic Heritage System (VEPS) ist das Ergebnis der litauischen „Strategie der Digitalisierung, digitalen Bewahrung und Zugänglichkeit des kulturellen Erbes“. VEPS ist eingebettet in die virtuelle Bibliothek „Europeana“, der deutscherseits die 2009 geschaffene Deutsche Digitale Bibliothek zuliefert und wo inzwischen knapp 60 Millionen Objekte aus ganz Europa abrufbar sind.

Hinweistafeln mit QR-Code

So beeindruckend die Zahlen aus Vilnius sind – Größe ist kein Kriterium mehr für die Teilnahme an der Digitalisierung. Die kommunale Bibliothek im litauischen Plunge, einem Städtchen mit 35 000 Einwohnern samt Umland, residiert in einem umgebauten, gutsherrlichen Wohnhaus von 1846 inmitten eines weitläufigen, doch ortsnahen Parks. Nun werden von hier aus nicht weniger als zwölf Stadtteilbibliotheken mitbetreut. In Zusammenarbeit mit dem Botanischen Museum der Hauptstadt wurden im Park anstelle von Hinweistafeln solche mit QR-Code aufgestellt, über die sich alle Informationen aufs Smartphone laden lassen.

Die Stadtbibliothek von Klaipeda, dem bis 1918 überwiegend deutsch besiedelten Memel, fungiert als Heimstatt der Arbeitsgemeinschaft der Memellandkreise. Die hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg gegründet. Mit dem Aussterben der Erlebnisgeneration, so der Bundesvorsitzende Uwe Jurgsties beim Besuch in der Stadt seiner Vorfahren, stellte sich die Frage nach dem dauerhaften Ort der Erinnerungsstücke wie auch der Bewahrung der Erinnerungen.

Digitalisierung als Vehikel der Teilhabe

„Das Ganze soll zurück an den Ursprungsort“, so Jurgsties – und wird in der Stadtbücherei sowohl digitalisiert als auch in Vitrinen ausgestellt. Übrigens gehörte das Thomas-Mann-Haus in Nida, dem vormaligen Nidden auf der Kurischen Nehrung, bis zu seiner Eröffnung als Kulturzentrum 1996 zur Stadtbücherei von Klaipeda, erwähnt die Direktorin – und nach dem Besuch des Dichter-Sommerhauses meint man, ein leises Bedauern über die Loslösung dieses wunderschönen Anwesens gehört zu haben.

Die baltischen Länder – für Estland gilt Vergleichbares – sind hervorragend „aufgestellt“, wie es heutzutage heißt, sie haben sich Strategien für das digitale Zeitalter gegeben und setzen sie mit bemerkenswerter Tatkraft um. Ein besonderes Augenmerk gilt dem kulturellen Erbe, das nicht nur in Gestalt seiner materiellen wie immateriellen Zeugnisse erfasst und digitalisiert, sondern auch über verschiedene Apps vor Ort zugänglich gemacht wird. „Wir alle benutzen Smartphones – überall“, sagt eine Bibliothekarin und trifft genau den Punkt: Digitalisierung als Vehikel der Teilhabe aller an allem, was sich überhaupt bewahren und weitergeben lässt. Wer für die digitale Revolution Zuversicht benötigt, findet sie in den kleinen Ländern – sie sind in Wahrheit ganz groß.

Auch die baltischen Bibliotheken nehmen an diesem Mittwoch am internationalen Bibliothekstag teil. Hierzulande warten zahlreiche Bibliotheken mit Veranstaltungen auf, und der Deutsche Bibliotheksverband vergibt seine Auszeichnung „Bibliothek des Jahres“.

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