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Experimentierfreudig. Sänger, Gitarrist und Produzent Tobias Siebert, 38, in seinem Studio am Schlesischen Tor.

© DAVIDS/Darmer

Indie-Pop im Alleingang: Die Band bin ich

Für sein Album And The Golden Choir hat Tobias Siebert vier Jahre gebraucht. Herausgekommen ist ein opulentes Werk bei dem Siebert jedes Instrument selber spielt. Und auch bei Live-Konzerten ist er der einzige Musiker auf der Bühne – für Bass, Schlagzeug, Klavier und Violine.

Es ist noch früh am Morgen. Tobias Siebert hat in sein Studio direkt am Schlesischen Tor in Kreuzberg eingeladen. Erst mal gibt es Kaffee. Das ist auch das Standardprozedere, wenn Siebert an seinen eigenen Songs arbeitet: „Morgens ankommen, Kaffee machen und dann überlegen, mit welchem Instrument ich den nächsten Song angehen könnte.“

Von Haus aus ist Siebert Gitarrist. Als solcher hat der 38-Jährige in zwei Bands gespielt, bei Delbo, die es seit gut drei Jahren nicht mehr gibt, und bei Klez.e, wo er auch singt. Bei seinem Soloalbum „Another Half Life“, das er vor Kurzem unter dem Namen And The Golden Choir veröffentlicht hat, hat er es jedoch wie Prince gemacht und alle Instrumente selbst eingespielt. Was schon deswegen erstaunlich ist, da seine Platte kein knarziges Singer-Songwriter-Album ist, sondern ein opulent arrangiertes Werk voller Pathos. Bass, Klavier, Schlagzeug, Harfe, Violine, eine Waldzither, eine Santur (persisches Hackbrett), all das und noch viel mehr ist hier zu hören, gespielt von Siebert. Wie geht das?

Siebert: "Ich hau jetzt da drauf, dann dort drauf."

„Ich bin ein Sammler von exotischen Instrumenten“, erklärt er, „und ich habe das Talent, aus allem etwas herauszubekommen.“ Seine Arbeitsweise beschreibt er so: „Ich hau jetzt mal da drauf und ich hau jetzt mal dort drauf und nehme noch das dazu.“ Dabei zeigt er auf eine der Harfen in seinem Studio, das vollgepackt ist mit Analog-Synthesizern, diversen Gitarren, einem Banjo, einer alten Bandmaschine. Manchmal würde es schon reichen, einfach nur über die Saiten eines derartigen Instruments zu streichen, um einen effektvollen Sound zu bekommen.

Siebert kennt viele gute Musiker, die die unterschiedlichsten Instrumente beherrschen, sie gehen in seinem Studio ein und aus. Aber sie für ein paar Stunden zu buchen, das wäre irgendwie zu einfach gewesen für And The Golden Choir. „Ich will, dass etwas Neues aus mir heraus entsteht“, erklärt er, „mit meinen begrenzen Fähigkeiten auf dem Instrument.“ Es gehe ihm nicht darum, dass etwas „richtig“ gespielt werde, sondern eher „um die Entfaltung der vielen Ichs von mir.“

Vier Jahre Arbeit stecken in dem Album

Eine gewisse Portion an Perfektionismus und Kontrollwahn muss man für ein derartiges Projekt sicher auch mitbringen. Vier Jahre hat es gedauert, bis die Platte fertig war. Es hat sich gelohnt, denn so international klang schon lange kein Pop mehr aus Deutschland. Siebert verneigt sich mit seiner Musik vor Radiohead, nähert sich mit seinem Falsett der Intensität von Antony & The Johnsons und lässt eine gospelartige Stimmung und überhaupt sehr viel Halleluja durch seine Songs wehen. Eine derartige Musik kommt normalerweise eher aus London als aus Berlin. Was Siebert, der eine gepflegte Britpopperfrisur vorweisen kann, als Kompliment nimmt.

Er ist die Band, der Bass, das Klavier, die Harfe

Experimentierfreudig. Sänger, Gitarrist und Produzent Tobias Siebert, 38, in seinem Studio am Schlesischen Tor.
Experimentierfreudig. Sänger, Gitarrist und Produzent Tobias Siebert, 38, in seinem Studio am Schlesischen Tor.

© DAVIDS/Darmer

Für jemanden, der über sich selbst sagt, er „genieße es, alles allein zu machen“, wirkt Siebert überhaupt nicht wie ein misanthropischer Kauz. Gut, er ist Melancholiker, trägt am liebsten Schwarz, ist großer Fan der britischen Düsterpopper The Cure, singt Strophen wie „My heaven ist lost, I’m alone again“ – aber gegen die Zusammenarbeit mit anderen Menschen hat er eigentlich nichts. In seinem Studio, das er Radiobuellebrueck getauft hat, werkelt er schließlich nicht nur an der eigenen Musik herum, sondern produziert andauernd Bands aus dem Indiebereich. Enno Bunger, Marcus Wiebusch, Phillip Boa, die Liste an Musikern, die er in seinem Studio mit den vielen Instrumenten betreut hat, ist lang. Es sind meist befreundete Bands, mit denen er hier arbeitet. Überlässt er ihnen sein Reich, sei das so, „als ob ich meine Wohnung untervermieten würde“.

Jede Band hinterlässt ihr Lieblingsbuch im Regal

Die familiäre Note zeigt sich auch an den beiden Bücherregalen, vor denen die Gitarren stehen. „Jede Band legt nach einer Aufnahme ihr Lieblingsbuch hier rein“, erklärt Siebert. Wenn es mal nicht so richtig läuft, gibt er einem Musiker schon mal ein Buch mit nach Hause, sagt Siebert. Er selbst sei Fan von Max Frisch, außerdem von Paulo Coelho – weil es in dessen Werken auch immer um die Beschäftigung mit sich selber gehe. Einen technischen Grund haben die Bücherregale aber auch: „Sie wirken wie eine Bassfalle. Von ihnen fällt der Schall nicht so stark zurück.“

Das Egoprojekt And The Golden Choir ist auch als eine Art Gegenreaktion auf die viele Arbeit mit und in Bands entstanden. „Ich habe mein Studio seit 2001“, sagt Tobias Siebert, „und ich habe anfangs ziemlich viel als Produzent malocht und dann gemerkt, dass ich einfach mehr Zeit für mich brauche.“ Er habe nach einem Inselgefühl gesucht. Und so setzt er den Album-Alleingang nun auch bei seinen Auftritten fort, bei denen er sich ebenfalls mit technischen Mitteln verfielfältigt.

Auf der Bühne bildet er mit all den Instrumenten, die er zu spielen gedenkt, einen Halbkreis. Jedes einzelne seiner Stücke hat er sich auf Dubplates schneiden lassen, die legt er nacheinander auf einen Plattenspieler. Der Gesang fehlt auf den Dubplates, ebenso das jeweilige Instrument, das Siebert live spielt. So entsteht eine gespenstische Atmosphäre.

Eine Band von vielen Sieberts

Die Dubplates knistern bei jedem erneuten Abspielen immer stärker, die Band, mit der Siebert auftritt, ist auf der Schallplatte und natürlich ist diese Band wiederum niemand anders als all diese vielen Sieberts. Es ist schon vertrackt und um die Ecke gedacht bei And The Golden Choir. Was das angeht, ist Tobias Siebert doch ziemlich deutsch.

And The Golden Choir „Another Half Life“ ist bei Loob/Cargo erschienen. Konzert: Lido, 27.4., 20 Uhr

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