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Schlussapplaus beim Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie am 11. Januar.

© dpa

In der Hamburger Elbphilharmonie: Diese Transparenz hat etwas Ungeheuerliches

Im Bauch des Walfischs: Die Elbphilharmonie ist seit sechs Wochen eröffnet. Unsere Autorin konnte es kaum erwarten, sie endlich zu sehen - und zu hören.

Sie ist morgens aus Paris gekommen, sie hat sieben Stunden in der Schlange für nicht abgeholte Karten gestanden, und kaum zu glauben, es gibt ein paar Tickets für das Konzert mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter Thomas Hengelbrock. Das ist nicht immer der Fall. Hinterher sitzt sie auf dem Boot Linie 72 zurück zu den Landungsbrücken, sie erzählt, wie die Wartenden sich fast geprügelt haben. Hochkultur und Barbarei liegen manchmal dicht beieinander.

Die Besucherin, eine muntere, ältere Dame, ist überglücklich. Der Moment, als im höllischen Finalsatz von Mahlers Auferstehungs-Sinfonie die KlopstockZeilen „Aufersteh’n, ja aufersteh’n“ erklangen, als die in langen mäandernden Reihen hinter dem Publikum in den mittleren Rängen postierten Sänger des NDR Chors und des WDR Rundfunkchors in dreifachem Piano und „Misterioso“ ihre Stimmen erhoben, er war pure Magie. Als ob der Raum selber Atem schöpfte und sich in Klang verwandelte. Und die 2100 Zuhörer gleich mit. Immersion heißt das Modewort. Gustav Mahler hat es komponiert, vor bald 125 Jahren.

Was ist nicht alles gestritten worden über die Akustik der Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron. Bei der Eröffnung am 11. Januar war sie das Thema (neben dem Hamburger Bürgerstolz), und das Spektrum reichte von Entsetzen bis Euphorie. Was einmal mehr beweist, welch individuelles, eigenwilliges Sinnesorgan die Ohren doch sind.

Der Tagesspiegel-Kollege Frederik Hanssen feierte die enorme Präsenz, die ideale Verbindung von Klarheit und Wärme. Lupenrein sei der Klang, analytisch klar, schrieb auch „Der Spiegel“. „Zeit“-Redakteurin Christine LemkeMatwey diagnostizierte eher eine „schonungslose Klangkühle“. Eleonore Büning machte in der „FAZ“ eine „brutal durchkalkulierte Studioakustik“ aus: Überwältigungsmusik sei klar im Vorteil. Reinhard Brembeck von der „Süddeutschen“ erlebte hingegen einen „sehr, sehr großen Kammermusiksaal“, vernahm eine dunkle romantische Wärme. Am härtesten ging Manuel Brug von der „Welt“ mit dem Akustikstar Yasuhisa Toyota ins Gericht. An seinem Platz in Block I knallte und krachte es oft, aufgespreizt, verflacht sei der Klang.

Abplatzende Farbpartikel

Hört man vor allem, was man kennt? Wonach man sich sehnt? Die „New York Times“ zum Beispiel freute sich über die Schalldichte des Saals: Ach, könnten Manhattans Konzerthäuser den Straßenlärm doch ähnlich außen vor lassen, wie es hier mit den Schiffssirenen geschieht!

An einem gewöhnlichen Konzertabend ohne Absperrungen und Promiauftrieb sechs Wochen nach der Eröffnung lässt sich erleben: Ja, die Transparenz dieses Raums hat etwas Ungeheuerliches, sie kennt tatsächlich keine Gnade, wenn die vier Harfen im Eröffnungssatz von Mahlers pantheistischer Zweiter Sinfonie auch nur für eine Millisekunde asynchron spielen, die Glocke beim Dies-Irae-Finale eine Spur zu laut schlägt oder ein Besucher ins „Misterioso“ reinhustet. Dann kommt es zu dummen Irritationen, Farbpartikel platzen ab, Einzelstimmen ragen schrill heraus.

Aber das NDR Orchester als StammEnsemble hat mit der hochsensiblen Akustik offenbar umzugehen gelernt (und das Publikum auch, es ist meist mucksmäuschenstill). Die Irritationen sind selten bei diesem Konzert. Und man nimmt sie gerne hin, denn hier geschieht Unerhörtes: Die Urgewalt der Musik nimmt alle Sinne ein, direkt, persönlich, unmittelbar. Sie widerfährt einem gleich in den ersten, fast unwirschen Takten der Kontrabässe und Celli, gefolgt von betörend differenziert registrierten Holzbläsern und klappernden Skeletten, wenn die Streicher mit den Bögen auf die Saiten schlagen. Es steigert sich in der koketten Anmut des „Fischpredigt“-Scherzos, mit dem „Urlicht“-Gesang Gerhild Rombergers, die hinter dem Schlagzeug platziert ist und deren sonorer Alt einem auf der Stelle zu Herzen geht. Als sänge sie nur für mich. Und auch im Weltuntergangs-Finale mit Annette Dasch und den Chören dosiert Thomas Hengelbrock präzise, nuanciert die Dynamik, rückt Mahler mal an Wagner und Berlioz oder zaubert Sphärenmusik.

Symphonien gewinnen den Charakter von Hauskonzerten

Das Heikle der Akustik ist gerade das Wunderbare, sagt Stefan Geiger. Seit 1991 ist er Soloposaunist beim NDR, er liebt die Herausforderung des neuen Saals. Eine solche Klangfülle bei gleichzeitiger Klarheit hat er nirgendwo sonst je erlebt, auch nicht, dass eine Solo-Oboe nach einem Tutti-Fortissimo gleich wieder uneingeschränkt zu hören ist. Neulich war er in New York, ging in seine geliebte Carnegie Hall und fand erstmals, dass dort auch Geschmacksverstärker am Werk sind. „Der Klang in der Elbphilharmonie“, sagt Geiger,, „ist wie der Geschmack einer einfachen, klaren Minestrone, die ein Sternekoch zubereitet hat.“

Auch er dosiert jetzt noch genauer, fährt ein Fortissimo nicht gleich voll aus – und fühlt sich reich beschenkt. „Man hört nicht nur alles, man sieht auch alles, jedes einzelne Gesicht im Publikum.“ Die Folge: Eine Symphonie gewinnt den Charakter eines Hauskonzerts, ohne auf Kammermusik reduziert zu werden.

Natürlich kann man sagen, so ist Klassik nicht gemeint, so unverschämt nah, so intim. Aber an diesem Freitag schweigen die 2100 Menschen im Saal nach dem fünf-, sechssekündigen Nachschwingen des letzten Tons lange, sehr lange, bevor der Jubel ausbricht.

Dem temporären Wahl-Hamburger und Klangfetischisten Gustav Mahler, der den Klopstock-Choral im Hamburger Michel gehört hatte und mit seinem Wiedergeburts-Mystizismus auch das flüchtige Wesen der Musik zu überwinden versuchte, diesem Komponisten hätte die Elbphilharmonie bestimmt gefallen. Schon weil das Gebäude selbst Außenansicht und Introspektion miteinander verschränkt. Es stülpt sich augenfällig nach innen, wenn es einen über die Rolltreppenröhre hineinsaugt in seinen Schlund, bis man sich im Bauch des Walfischs wiederfindet, in dieser organischen, maritimen Architektur, einer gigantischen Muschelkalkschale mit Kugellampen wie Wasserblasen und einem Schalltrichter, der urzeitlichen Tiefseepflanzen ähnelt.

Man sagt, die Gegenwart sei eine Zeit der Entfremdung. In der Elbphilharmonie kann man ihr Innenleben erkunden.

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