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Trügerische Idylle. Mafioso Tommaso Buscetta (Pierfrancesco Favino) kurz vor der Rückkehr aus dem brasilianischen Exil.

© Pandora

In Cannes gefeiert, nun im Kino: „Der Verräter“ zeigt einen der blutigsten Mafia-Kriege

Marco Bellocchio gelingt ein Wurf in der Geschichte des Mafia-Films. Er beleuchtet das Innenleben der Cosa Nostra und ihre Verbindung zum italienischen Staat.

Eine Sommernacht 1980 bei Palermo, wie eine Sarazenenburg thront die Villa des sizilianischen Clanchefs Stefano Bontade auf einer Klippe über dem Meer. Mandolinenklänge, in orientalische Tücher gehüllte Wächter halten auf der Dachterrasse Fackeln in den Sternenhimmel, während ein schwarzgelockter Mann im weißen Seidenanzug einem der Fackelträger kurz an die Brust greift.

Im Kostüm steckt ein Revolver. Nachdenklich zieht der Mann an seiner Zigarette und geht durch die von Musik, Lichtern, tanzenden Paaren, von Gruppen von Frauen mit Kindern und in separaten Zimmern versammelten Männern erfüllte Villa hinab an den privaten Strand.

Dort findet er seinen etwa 20-jährigen Sohn, offenbar auf einem schlechten Drogentrip. Der Vater zwingt die Jammergestalt zurück ins Haus, wo das Fest der Heiligen Rosalia von Palermo gefeiert wird.

Die Bilder erinnern an Szenen aus Luchino Viscontis Verfilmung von Lampedusas „Il Gattopardo“. Auch hier wird ein Epos und eine Legende inszeniert, aber der Anfang von Marco Bellocchios „Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“ meint einen historisch realen Spuk.

Umhüllt von Folklore, pompösem Kitsch und religiösen Riten feiern an diesem Spätsommerabend vor 40 Jahren die Cosa-Nostra-Clans um Bontade aus Palermo und die aus dem Inselinneren stammenden Corleonesi ein Abkommen. Den neuerdings boomenden Heroinhandel wollen sie friedlich unter sich aufteilen.

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Nicht nur wegen des drogengeschädigten eigenen Sohnes erscheint der Mann im Seidenweiß neben all den Anderen in ihren traditionell dunklen Anzügen von Beginn an als Außenseiter. Er ist Tommaso Buscetta, genannt Don Masino, aus dem Kreis der palermitischen Mafiosi.

Bruscetta traut dem Pakt unter Teufeln nicht. Und die elegisch abgründigen Bilder des Anfangs werden bald konterkariert durch hart und quasi dokumentarisch geschnittene, mit einem Zählwerk kombinierte Szenen von Hinrichtungen. Auch etliche Gäste der vermeintlichen Versöhnungsfeier, darunter ein Mafia-Priester, werden von Kugeln durchsiebt. Die am Bildrand mitlaufenden Zahlen springen dabei ins Dreistellige.

Es ist der blutigste Mafia-Krieg, über Jahre entfacht von den Corleonesi, angeführt von ihrem gedrungenen, nach außen bäurisch bieder wirkenden Paten Totò Riina, genannt „die Bestie“. Riina will die Auslöschung ganzer Familien, lässt erstmals in der Geschichte der „ehrenwerten Gesellschaft“ auch systematisch Frauen und Kinder ermorden, unter ihnen zwei Söhne und weitere Verwandte von Tommaso Buscetta.

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Der wechselt mit seiner dritten Frau und ein paar jüngeren Kindern als „Boss zweier Welten“ hinüber nach Brasilien, lebt unter falschem Namen in Rio – immer auf der Hut vor den langen Armen der Cosa Nostra. Als er stattdessen von der brasilianischen Polizei verhaftet und gefoltert wird, hat ihn freilich längst die Sehnsucht nach Sizilien erfasst.

Und der Wunsch, seine ermordeten Söhne zu rächen. Nach einem missglückten Selbstmordversuch liefert man ihn nach Italien aus, wo er einen neuen Pakt schließt. Diesmal mit dem Untersuchungsrichter Giovanni Falcone.

Zwei Seiten der Staatsmacht

Der Start von Marco Bellocchios bereits 2019 beim Festival in Cannes mit viel Beifall bedachtem Zweieinhalbstundenfilm musste im Frühjahr wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Jetzt aber kommt „Il Traditore“ („Der Verräter“) noch immer zur richtigen Zeit.

Denn ein möglicher Gewinner der Krise ist nicht nur in Italien die international operierende Mafia. Da fließt viel Geld, das gewaschen werden muss: als Angebot auch an den Staat mit seinen erschöpften Kassen. Der heute 80-jährige Bellocchio zeigt neben seinem Titelhelden und dem schillernden Innenleben der Mafia zugleich zwei Seiten der Staatsmacht.

Historisch spielt das in den 1980er/90er Jahren, zielt indes bis in die Gegenwart.

Es existiert noch ein dunklerer Staat

Zum einen erzählt die Geschichte des umkämpften Heroin-Handels die Expansion der Mafia, jenseits aller noch katholisch oder subkulturell geprägter Vorstellungen eines archaischen „Ehren“-Kodex. Andererseits wächst der öffentliche Widerstand, mit neuen Gesetzen für Kronzeugen, Richter und Staatsanwälte wie Falcone oder dessen Kollege Paolo Borsellino setzen ihre Leben aufs Spiel (und haben sie bei Mafia-Anschlägen verloren).

Doch existierte dahinter noch ein tieferer, dunklerer Staat. Sein mächtigster Vertreter hieß lange Zeit Giulio Andreotti, sieben Mal Italiens Ministerpräsident, oft verdächtigt und einmal sogar – ohne praktische Folgen – wegen möglicher Verbindungen zum Organisierten Verbrechen verurteilt.

Bellocchio führt diesen Nebenstrang wie beiläufig ein: mit einer der abgründig komischsten Szenen der jüngeren Kinogeschichte. Buscetta hat nach seiner Überstellung von Rio nach Rom die Rolle des ersten Kronzeugen gegen die inzwischen von den Corleonesi beherrschte Cosa Nostra übernommen.

Nach den Verhören durch Falcone folgt 1986 der beispiellose „Maxi“- Prozess gegen mehr als 400 verhaftete oder flüchtige Mafiosi, unter ihnen der später gefasste Pate Totò Riina.

Ein neuer Wurf in der Geschichte des Genres

Buscetta, ein vital eitler Mann, der anders als Riina „lieber vögeln als befehlen“ möchte, braucht für seine im Fernsehen übertragenen, im Film dramatischen Auftritte vor Gericht einen neuen Anzug. So wird der geständige Mafioso unter Bewachung zu einem diskreten Termin bei einem prominenten Herrenschneider gebracht, und während der Anprobe sieht man aus einem Nebenzimmer einen anderen Kunden huschen. Es ist, mit noch unfertigem Jackett und in Unterhosen, ein älterer, leicht bucklichter Mann, ebenfalls gut bewacht. Buscetta traut seinen Augen kaum: „Il presidente?“ Der Kunde ist Andreotti.

Dieser Flash erzählt mehr als die ganze große und doch eher nur affirmative Erfolgskomödie „Il Divo“, die Paolo Sorrentino 2008 einst als Andreotti-Parodie gedreht hat. Bellocchio schafft in seinem Epos auch sonst viele dichte Momente, vor allem dank seines Hauptdarstellers Pierfrancesco Favino, der Buscetta mit bullig listigem Macho-Charme so dubios wie mitunter vertrackt sympathisch gibt.

Fabelhaft auch die vielen sizilianisch sprechenden Typen (weshalb sich die OmU-Fassung empfiehlt): Fabrizio Ferracane als aasig intriganter Killer, Nicola Calì als Riina ganz giftkrötig bigott. Ihnen gegenüber die Mischung aus Madonna und moderner Frau in Gestalt von Maria Fernandes Candido als Buscettas Ehefrau oder die feine Charakterstudie Fausto Russo Alesis als Richter Falcone.

Eine Nachtszene, sehr anders als die vom Anfang, bildet den überraschenden Schluss. Dabei wirft das Dunkel noch einmal Licht auf den „Verräter“, der die omertà, das Schweigen der Mafia, bricht und doch seine Taten nie ganz verrät. Diesem Geheimnis ist Bellocchios Film so immerhin auf der Spur. In der Geschichte des Genres, von Damiano Damiani bis Matteo Garrone, ein neuer Wurf.
Ab Donnerstag in den Kinos

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