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Der letzte Titan. Herbert von Karajan.

© imago

Image vs. Realität: Wer war Herbert von Karajan wirklich?

Der Philharmoniker-Chef bediente das Bild eines mondänen Playboys und Perfektionisten. Dahinter verbarg er andere Seiten.

Ulrich Eckhardt lernte Herbert von Karajan 1959 als Teilnehmer des Internationalen Dirigentenpraktikums kennen, das der Philharmoniker-Chef leitete. Ab 1973 bis zu seinem Tod 1989 hatte Eckhardt als Intendant der Berliner Festwochen dann enge berufliche Beziehungen zu Karajan.

Wer die Karriere Herbert von Karajans im Kontext seines Jahrhunderts betrachtet, betrachtet auch einen grundsätzlichen Widerspruch: Während alle Autoritäten wankten, errichtete hier jemand ein autokratisch verfasstes musikalisches Imperium auf der Basis herausragenden Könnens in einem Beruf, dessen Merkmal das autoritäre Führen einer Gemeinschaft ist.

Sein Publikum verehrte ihn als Pultstar und kaufte millionenfach seine Schallplatten, große Teile der Fachwelt dagegen ziehen ihn eines Kults des Perfektionismus, machten ihn als „Generalmusikdirektor Europas“ verächtlich, belächelten seine Technikbesessenheit, verurteilten seine politische Blindheit. Seine vermeintliche Unnahbarkeit verstärkte noch die Ressentiments.

Wer war der als Heribert Ritter von Karajan in Salzburg am 5. April 1908 geborene Mensch wirklich hinter einer von ihm selbst gepflegten Fassade? Niemand sollte ihn je schwach sehen; die Abbilder eines tollkühnen Seglers, Rennfahrers, Piloten, Skifahrers oder Bergsteigers sollten das Image ausmachen; in Wahrheit war er scheu bis zur Paranoia, äußerst misstrauisch und am Ende seiner Tage ein ausgemachter Misanthrop.

Der Wunsch nach Einsamkeit in freier Natur prägte seinen Charakter und war Ausgangspunkt des lebenslänglichen Strebens nach Unabhängigkeit, was allgemein irrtümlich als Machtbesessenheit gedeutet wurde. Er wollte jederzeit frei sein in seinen Entscheidungen, frei von Einflussnahme, von politischen oder anderen außermusikalischen Störungen.

Deshalb musste er sich selbst ein eigenes Königreich aufbauen – gegen alle gesellschaftlichen Maximen der Zeit. Er war ein Unzeitgemäßer in seiner Gegenwart und konnte oder wollte das nicht begreifen.

Sein Gehör war unbestechlich

1955 begann mit seiner Wahl zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker eine künstlerisch wie ökonomisch goldene Zeit von 34 Jahren für Orchester und Chef mit rund 2000 Konzerten und über 800 Aufnahmen. Karajan hatte die Chance, das Orchester im Generationswechsel zu verjüngen und solistische Positionen seinem Klangideal entsprechend neu zu besetzen.

Er entwickelte einen äußerst flexiblen, transparent agierenden Klangkörper, der sich mit Opern und Schallplatten neue Dimensionen des Musizierens erschließen konnte, getrimmt auf perfekten, exquisiten Schönklang. Er probte konzentriert, gab der individuellen Entfaltung des einzelnen Musiker den nötigen Raum, so dass sich das Kollektiv aus Persönlichkeiten ernst genommen und motiviert fühlte, alles zu geben, was ihm möglich war. Karajan war alles andere als ein verwegener Dompteur oder zynischer Besserwisser.

Einige waren anfänglich irritiert, weil Karajan im Konzert beim Dirigieren seine Musiker nicht ansah, nicht durch Blicke aufmunterte oder ermahnte; es gehörte zu seiner Taktik, die Verantwortung für das klangliche Geschehen im Ernstfall des Konzerts durch Reduktion der Gestik weitgehend auf seine Musiker zu delegieren. Karajan reagierte nie unmittelbar auf Fehler der Orchestermusiker; denn er war überzeugt, dass dadurch deren Leistung nicht verbessert, sondern eher gemindert wird – ein psychologisch kluger Umgang mit den Betroffenen.

Scheinbar ein mondäner Playboy und glamouröser Gast in der High Society war Karajan in Wirklichkeit ein besessener Arbeiter, ernsthaft und skrupulös bis zum Exzess. Seine Proben waren gründlich, im Detail unerbittlich gegenüber falschen Tönen und falschen Phrasierungen; er feilte an Fermaten, Pausen und der Dauer eines Tons, an der Dynamik und Architektur des Werks. Sein Gehör war unbestechlich, sein Formsinn hoch entwickelt. Er leitete die Musiker an, aufeinander zu hören. Perfektionismus hieß die Parole – und er konnte einfach nicht glauben, dass der Begriff pejorativ gegen ihn gewendet werden konnte.

Meister der Inszenierung. Herbert von Karajan (1908–1989) dirigiert Beethoven inmitten der Berliner Philharmoniker, auch für die Kameras.
Meister der Inszenierung. Herbert von Karajan (1908–1989) dirigiert Beethoven inmitten der Berliner Philharmoniker, auch für die Kameras.

© Unitel/BPhil

Wenn er zügig zum Pult schritt, setzte unvermittelt seine Ausstrahlung von Ruhe, Gelöstheit, Glaubwürdigkeit und Lockerheit ein. Er schien die Kraft und Konzentration aus der Ruhe zu gewinnen, in die er sich versenkt hatte. Niemals würde er die Zone der Ruhe durch hektische Gestik verlassen – etwa mit spitzem Finger auf Musiker zeigend, keine flatternde Hand zwecks Erzeugung von dynamischen Steigerungen, keine karateartigen Stöße, um Energien zur Entladung zu bringen. Das alles ergab sich bei ihm wie selbstverständlich und logisch aus der Formung des Ganzen.

Wenn Karajan das Podium betrat, begann ein personales Schauspiel im Drama – wohl wissend, dass, anders als im Aufnahmestudio, jetzt zusätzliche Vibrationen und Kommunikationen beginnen mussten, um die notwendig elementare Aura des Konzerts auszulösen. Die beabsichtigte Faszination beim Publikum war kein Selbstzweck, sondern wie immer bei großer Schauspielerei ein Instrument der Vermittlung von Verständnis und Einsicht in das präsentierte Kunstwerk.

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Im Grunde genommen war Karajan also ein eher unprätentiöser Dirigent; er wusste, wie der Klang entsteht, nicht durch ihn, sondern erst durch die physische Präsenz und Aktionen des Kollektivs; er gab nicht vor, die Musik komme aus ihm; er sah sich als koordinierender, animierender, motivierender Feldherr auf dem Schauplatz der Emotionen.

Musizieren und Reden waren bei Karajan vollkommen gegensätzlich: Das eine fließend organisch, abgerundet, harmonisch und auf Schönheit bedacht, das Andere abrupt, sprunghaft, mitunter aggressiv und brüchig. Als Musiker konnte er sich total konzentrieren und innere Ruhe vermitteln – als Gesprächspartner musste man jederzeit auf irrationale Ausbrüche von Ärger gefasst machen. Mitunter geriet er dabei von seinem sprichwörtlichen Knurren und Gurgeln ins Stottern – verblüffend für jeden, der zum ersten Male auf den Star traf.

Karajan hasste Menschenansammlungen

Nur bei vollkommener Vertrautheit mit dem Partner und vor allem bei Musikern und Sängern in der konkreten Arbeitssituation, wenn es also um die Sache ging, in Proben das Äußerste an Perfektion zu erreichen, war er ausgeglichen, ruhig und ausgewogen. Beruf und private Existenz waren mithin scharf getrennt. Zum Psychogramm gehört auch, dass er Begegnungen vermied, die ihm Emotion abverlangten. Zur intellektuellen Diskussionskultur hatte er keinen Zugang, keine Neigung, keine Begabung. Er ist überempfindlich gegenüber kritischen Einwänden gegen seine Arbeit und Leistung. Angelegenheiten, für die er sich als Autorität betrachtet, stellt er nicht zur Debatte.

Karajan hasste Menschenansammlungen und urbanes Gedränge, selbst Aufzüge benutze er nicht, aus Angst, dort zu nah neben fremden Menschen stehen zu müssen – ein menschenscheuer, verschlossener, schwer zu ergründender, am Ende einsamer Mensch mit einer fast pathologischen Angst vor geistigem und körperlichen Verfall im Alter.

Berlin als Stadt hat Karajan nie wirklich gesehen und verstanden; er bewegte sich nur zwischen Konzertsaal, Aufnahmestudio und Hotel, bezog hier nie eine eigene Wohnung, frequentierte kaum andere Kunststätten. Im Gegenteil – er floh förmlich zurück in seine vertrauten heimatlichen Gefilde, nach Salzburg, wo er sich geborgen fühlte. Er wurde Berliner Ehrenbürger, wollte aber nie Bürger der Stadt sein. Er meinte, er gehöre der Welt, von der er annahm, dass sie ihm – jedenfalls im Sinne der Musik – gehöre: „Ein Fest ist immer dort, wo ich auftrete.“

Als er starb, ging eine musikalische Ära zu Ende

Globale Tourneen – besonders gerne nach Japan und in die USA – mit seinem Berliner Philharmonischen Orchester zog er den heimischen Abonnementskonzerten vor; sie mehrten den Ruhm und den Absatz auf dem Schallplattenmarkt. (Nur nach Israel konnte er nicht reisen; er war dort als früh eingetretener NS-Parteigenosse belastet und unerwünscht.) Nach Konzerten in der Berliner Philharmonie hatte er es immer sehr eilig. Es schien, als fliehe er vor der Stadt, die ihm doch künstlerische Basis war und ihm alles ermöglichte.

Seine Doppelkonzerte waren stets so angesetzt, dass nach dem Abendkonzert am Samstag das Sonntagskonzert um 11 Uhr begann, damit er anschließend eilig zum Flughafen Tempelhof gefahren wurde, wo er abflog – zu seinem Kummer über viele Jahre alliierter Lufthoheit nicht selbst als Pilot im eigenen Düsenjet am Steuerknüppel.

Als Karajan im Juli 1989 starb, ging eine musikalische Ära zu Ende – und bald darauf auch eine politische. Die alte Bundesrepublik, deren Aufstieg im Wirtschaftswunder er kulturell begleitet hatte, und mit ihr die exponierte Zwischenwelt West-Berlins, machte Platz für ein neues vereintes Land mit dem Austausch der dominanten gesellschaftlichen Kräfte. Berlin wurde aus einer kulturellen Hauptstadt wieder zu einem politischen Kraftzentrum, allerdings ohne den Unterbau einer wirtschaftlichen Metropole.

Bevor all dies geschah, verließ Karajan die Bühne. Die Intellektuellen unter den Musikliebhabern rieben sich nicht mehr an ihm; es wurde still um sein Wirken, die Bewertung seiner Leistungen blieb stehen bei weit verbreiteter verächtlicher Negation. Er, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert auf dem Felde der Musik beherrschte, schien ins neue Jahrhundert, in die veränderten sozialen, politischen, historischen Gegebenheiten, Denkmuster und Maßstäbe nicht mehr zu passen.

Ulrich Eckhardt

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