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Kultur: Im Schatten des Ararat

Türken, Armenier und Deutsche führen in Berlin gemeinsam Edgar Hilsenraths „Märchen“ auf

Von Caroline Fetscher

Ende Januar, auf der Beerdigung von Hrant Dink, fasste ein türkischer Freund des ermordeten armenischen Autors einen Vorsatz. In Gedanken versprach Recai Hallac dem intellektuellen Weggefährten, er werde dessen Arbeit fortsetzen und zur Aufklärung über den in der Türkei noch immer geleugneten Genozid an den Armeniern beitragen. Nun wirkt der 1962 in Istanbul geborene Übersetzer und Schauspieler Recai Hallac am Berliner „Theater unterm Dach“ an einer Inszenierung zum Völkermord von 1915 mit. „Ein erster Schritt“, erklärt Hallac, „das Versprechen an meinen armenischen Bruder“ einzulösen.

Das „Märchen“, das gar keins ist, berichtet verfremdend von Grausamkeiten, die es gab. Während der sterbende Thovma Khatisian auf dem Tor der anatolischen Stadt Bakir sitzt, gilt „sein letzter Gedanke“, geleitet vom Meddah, dem Märchenerzähler, seinem Vater. Dessen Leben führte von einem stillen Bergdorf in die Folterkammern der türkischen Völkermörder. Vor seinem inneren Auge wird er Zeuge des Pogroms, dem „Holocaust vor dem Holocaust“. Erzählend und zuhörend fügt Khatisian sich und seine Geschichte zusammen.

Edgar Hilsenrath ist von dieser einfühlsamen Inszenierung seines Romans „Das Märchen vom letzten Gedanken“ besonders berührt. Zum ersten Mal spielen hier Türken, Armenier und Deutsche gemeinsam die Geschichte, die der jüdische Schriftsteller 1989 schrieb und für die er den Alfred-Döblin-Preis erhielt - und in Armenien den Ehrendoktor der Universität Eriwan, den Präsidentenpreis der Republik. In Hilsenraths winziger Steglitzer Bleibe aus Bücherwänden und Bildern trifft sich das Ensemble vom „Märchen“, um einander Geschichten zu erzählen. Mit Bedacht haben sie nicht laut getrommelt für ihre mutige Arbeit. Zur Premiere bekamen sie Polizeischutz. Montag und Dienstag werden die letzten Vorstellungen in Berlin gegeben. „Reaktionen türkischer Nationalisten konnten wir nicht einschätzen", sagt Bea Ehlers, durch deren Engagement das Projekt zustande kam. „Glücklicherweise ist außer ein paar wütenden Worten nichts passiert.“

„Hier sind wir alle nicht nur Theaterleute“, so die Darstellerin des Märchenerzählers im Stück. „Jeden von uns in der dritten Generation verbindet etwas mit der Thematik.“ So setzt die dynamische Inszenierung auf Intensität und Kargheit, bewusst wird auf alles verzichtet, was trendy wäre. Bea Ehlers’ Mutter kam Mitte der zwanziger Jahre als Maria Krkorian in Äthiopien in einer Familie adliger, armenischer Flüchtlinge zur Welt, lernte in Addis Abeba einen deutschen Apotheker kennen und zog mit ihm in den Schwarzwald. Narrative Fragmente, mehr nicht, erfuhr Bea Ehlers durch Verwandte aus der Diaspora. Etwa dass Türken den Urgroßvater vor einem Stadttor erhängt hatten oder wie die Großmutter davon sprach, dass „Frauen abgeschlachtet" worden seien.

Stepan Gantralyan, 1963 geboren in Eriwan, war wie sein Kollege Recai Hallac lange Jahre Schauspieler am Theater an der Ruhr. Er spielt Wartan Khatisian, den Vater des Thovma, und denkt dabei auch an die elf Brüder seines Urgroßvaters, die das Morden nicht überlebten. In seiner Familie wurde viel erzählt, „wenn der Großvater sich mittags mit den Kindern hinlegte, hörten wir stundenlang vom Marsch der Flüchtenden durch die Wüste, von Jahren im griechischen Exil, von der Rückkehr ins stalinistische Armenien, das dann gar nicht das Paradies ihrer Träume war, im Schatten des Ararat.“ Ihn haben diese Bilder geprägt, und er weiß: „Wir sind die letzte Generation, die noch Augenzeugen von damals gekannt haben wird.“

In türkischen Schulbüchern, in Gesprächen in der Familie, sagt Recai Hallac, „gab es Armenien überhaupt nicht.“ Erst als Hallac, der in Istanbul Sprachen studierte, 1990 nach Deutschland kam, hörte er mehr. Vor allem die Freundschaft mit dem türkisch-armenischen Hrant Dink, den er in Deutschland als dessen Übersetzer kennenlernte, öffnete ihm neue historische und emotionale Horizonte. „So wenig wie ein junger Deutscher sagen kann, ihn gehe die Shoah nichts an, so wenig kann ich als Türke meine Augen vor diesem Teil der Geschichte verschließen.“ Hallac erzählt Edgar Hilsenrath seinen Traum, wie es mit dem Stück weitergehen könnte, als der 82-Jährige sich ins Sofa versunken eine neue Zigarette anzündet. Eines Tages, stellt sich Recai Hallac vor, „soll es am Staatstheater von Istanbul einen armenischen Intendanten geben. Denn den Armeniern verdankt die Türkei die Entdeckung des Theaters.“ Und dieser Intendant, wünscht sich Hallac, „wird uns dann mit unserem Stück nach Istanbul einladen.“ Alle hier in Hilsenraths Arbeitszimmer wissen: Das ist eine europäische Utopie. Jedenfalls heute noch.

Wieder am 14. / 15. 5., 20 Uhr. Theater unterm Dach, Danziger Straße 101.

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