zum Hauptinhalt
Liebe bis zum Tod. Nagisa Oshimas „Im Reich der Sinne“ entfachte 1976 auf der Berlinale einen Skandal. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte das „pornografische“ Werk. Der Film erzählt eine amour fou: Eiko Matsuda spielt eine Prostituierte, die ihren Geliebten beim Sex tötet, auf seinen Wunsch. Danach schneidet sie ihm die Genitalien ab.

© Argos Films/ Courtesy Pyxurz

"Im Reich der Sinne" - Nagisa Oshima ist tot: Wollust und Wahn

Berühmt wurde er vor allem mit einem Film, „Im Reich der Sinne“: der große japanische Regisseur Nagisa Oshima. Sein Werk provozierte 1976 einen handfesten Skandal auf der Berlinale.

Als Nagisa Oshimas alles überstrahlender Film „Im Reich der Sinne“ vor drei Jahren bei der Berlinale-Retrospektive „Play it Again – 60 Jahre Berlinale“ endlich wieder einmal auf einer großen Leinwand zu sehen war, gingen die Zuschauer nach der Vorführung still hinaus. Pornografisch – so der Skandalvorwurf unendlich ferne 34 Jahre zuvor – mochten die vielen jüngeren Besucher den Film wohl kaum mehr finden. Aber die Wucht, mit der da zwei ihre erotische Einanderverfallenheit bis zum Tod vor- und ausleben, wühlte auf wie am ersten Tag. Und machte sprachlos, für einen Augenblick zumindest, wie immer, wenn der Mensch dem Absoluten begegnet.

Ja, es ist dieser Film vor allem und am Ende vielleicht allein, der bleiben wird von Nagisa Oshima, der am Dienstag im Alter von 80 Jahren in einem Krankenhaus in Tokio gestorben ist. Gewiss, der Regisseur hatte schon eine äußerst produktive Karriere als politisches – und immer auch: sexualpolitisches – Enfant terrible des japanischen Kinos hinter sich, als er weltweit mit „Im Reich der Sinne“ Skandal machte. Und nach der weitaus dezenteren Nachfolgeproduktion zwei Jahre später, „Im Reich der Leidenschaften“, war er weiter als Filmemacher aktiv, wenn auch nur mehr in vieljährigen Abständen. 1976 aber bleibt das herausragende Jahr im Schaffen Oshimas. Als hätte sich bis dahin eine gewaltige Lebensfeuersbrunst aufgebaut, um sich alsdann umso schneller zu verzehren.

Die Geschichte der Prostituierten Sada und des Geishahaus-Besitzers Kichizo, die auf einem verbürgten Sensationsereignis im Japan des Jahres 1936 beruht, spielt zwischen Papierwänden auf einem Bett. Innen, Tag. Oder innen, Nacht. Ganz egal. Oder auch Innen gleich Außen, denn dieser die Außenwelt immer rigoroser ausschließende sexuelle Bolero ist laut und öffentlich, bis zum Tod. Die „Corrida der Liebe“, wie der japanische Originaltitel heißt, kehrt den Klassenunterschied zwischen dem Herrn und seiner Dienerin um. Erst gibt er noch den Matador, der zu spielen glaubt. Dann wird sie zur Matadorin, die Ernst macht und ihren Geliebten mit dessen völligem Einverständnis beim Sex erwürgt. Anschließend schneidet sie ihm die Genitalien ab und – so verrät es der Abspann – läuft tagelang mit den Liebesreliquien in der Handtasche durch Tokio, bis sie von der Polizei aufgegriffen wird.

Viermal wurde dieser Stoff verfilmt. Aber nur Oshimas minimalistischer, ganz auf die Körper konzentrierter, rasender Liebeskampf hat in seiner Radikalität die Zuschauer so erschüttert, dass schon die pure Erinnerung daran elektrisiert. Der Film ist ein Solitär, der in der realen Geschichte der Prostituierten Abe Sada seine Parallele findet: Bei ihrem Prozess – sie beharrt darauf, aus Liebe gehandelt zu haben – fordert sie die Todesstrafe für sich, wird aber zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nach ihrer Freilassung wird sie in Japan zur gefragten Ikone der eigenen Geschichte. Fast einen Monat dauerte ihr Sex-Marathon mit einem verheirateten Restaurantbesitzer quer durch die Tokioter Love-Hotels. Und irgendwann Anfang der Siebziger spürt Nagisa Oshima bei seinen Recherchen die inzwischen Hochbetagte in einem Kloster auf.

Den weltweit aufsehenerregendsten Prozess aber machte dem Film selbst – nach Zensurverstümmelungen in Japan und Protesten in Cannes – die Berliner Staatsanwaltschaft. 1976, bei der vorletzten Berlinale, die noch im Sommer stattfand, beschlagnahmte ein Kriminalkommissar die Kopie bei einer Vorführung im Forum des Festivals: eine Weltpremiere staatlicher Willkür gegen die Programmhoheit von Festivals. Forum-Chef Ulrich Gregor und zahllose Filmleute protestierten, es folgte mit einer zweiten, eilig herbeigeschafften Kopie eine ziemlich öffentliche „Geheimvorführung“. Doch es sollte noch fast zwei Jahre dauern, bis der Bundesgerichtshof den Pornovorwurf endgültig kassierte und „Im Reich der Sinne“ im Kino laufen konnte, nun „besonders wertvoll“ und unzensiert.

Lange her. Lärmende Berlinale-Geschichte, so anders als der stille RetroAbend 2010. Schließlich galt es damals, eine Freiheit der Sexualdarstellung im Film zu erobern und zu verteidigen, eine Freiheit, die später im Kunstkino – von Bruno Dumont bis Leos Carax, von Vincent Gallo bis Lars von Trier – nie ganz skandalfrei, aber stets selbstbewusst in Anspruch genommen wurde. Auch das ruft der Tod Oshimas schlagartig ins Bewusstsein: Nichts ist geblieben von der Subversivität des Intimen, nichts von der atemberaubenden Wucht eines schamlos gezeigten und zugleich aus Liebe vollzogenen Sexualakts. Im Zeitalter der Allverfügbarkeit pornografischer Bilder verweisen die Geschlechtsorgane auf nichts anderes mehr als auf sich selbst, ist ihnen jede Symbolkraft entzogen.

Oshima dagegen hat in seinen Filmen sexuelle Motive immer auch als Mittel des politischen Protests eingesetzt – erst für das Filmstudio Shochiku, das ihn als jungen Wilden aufbaute, bis es ihn nach einem ersten Skandal rauswarf, dann mit der eigenen Produktionsfirma Sozosha. „Nackte Jugend“ (1960), als Manifest einer japanischen Nouvelle Vague verstanden, war sein erster Erfolg: die Geschichte eines Pärchens, in dem die Frau den Lockvogel spielt und der Mann alsbald die kompromittierten Männer abzuzocken sucht – ein Motiv, das Oshima 1969 in „Der Junge“ wieder aufgriff. Massiv politisch zeigte er sich, ebenfalls 1960, in „Nacht und Nebel über Japan“, vor dem Hintergrund von Studentenprotesten gegen den japanisch-amerikanischen Sicherheitspakt. Seine späten Filme, „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ (1983) und „Tabu“ (1999), führten in die Welt militärisch geschlossener Gesellschaften, mal im Gewand des klassischen Kriegsfilms, mal in der Auseinandersetzung mit dem Verbot homosexueller Liebe unter den Samurai.

Ja, es gibt sie, diese Filmografie mit zwei Dutzend weiteren, hierzulande nur wenig bekannten Werken. Und dann ist da doch wieder Sada aus „Im Reich der Sinne“, verkörpert von der damals 24-jährigen Eiko Matsuda, die mit dieser Rolle unsterblich wurde und zugleich als Schauspielerin im prüden japanischen Kino danach kaum mehr gefragt war. Wir sehen sie, auf ihrem Geliebten kauernd, selig, verzweifelt, glücklich, wild, den immer entfesselteren Wahnsinn der Liebe im Blick. Und das Messer zwischen den Zähnen.

Zur Startseite