zum Hauptinhalt
Die Unnahbare. Clarice Lispector (10. Dezember 1920 bis 9. Dezember 1977) um 1960.

© privat

Im Kosmos von Clarice Lispector: Die Magierin der Bleistiftspitze

Sie war die größte brasilianische Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag von Clarice Lispector erscheinen endlich auch ihre Erzählungen auf Deutsch.

Von Gregor Dotzauer

Man muss ihr nicht in die grünen Katzenaugen gesehen haben, um vor ihrem sprungbereiten Lauern zu erschauern. Das besorgen ihre Geschichten von ganz alleine. Dennoch wäre Clarice Lispector wohl nicht so einfach als Muttergottes in den Himmel der brasilianischen Literatur eingezogen, wenn das Bild, das sie schreibend von sich entwarf, in ihrer Erscheinung keine Entsprechung gefunden hätte.

Das rätselhaft Unnahbare, in dem auch sie selbst sich nie wirklich zu ergreifen wusste, gehört zur ihr wie das Paar Fledermausohren zu Franz Kafka, die edle Melancholie zu Virginia Woolf oder die Hornbrillenrollkragenuniform zu Marguerite Duras.

Zu all diesen Schriftstellergestalten hat man ihr eine Verwandtschaft nachgesagt: durch das Mystisch-Chassidische bei Kafka, das Feministisch-Sarkastische bei Woolf und die Sprachen des Begehrens bei Duras. Lispector teilt mit ihnen auf jeden Fall, dass man ihre Texte trotz eines hohen Eigenblutanteils nicht einfach autobiografisch verstehen sollte. Was immer man aus ihren Romanen und Erzählungen herauslesen mag – es führt auf dem Papier, wie es sich gehört, ein eigenes Leben.

Warum Clarice Lispector für die Deutschen bis vor Kurzem eher ein Gerücht war, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es hierzulande auch ihre größten Landsleute nie leicht hatten. Machado de Assis, die Gründerfigur der modernen brasilianischen Literatur im 19. Jahrhundert, väterlicherseits afrikanischer, mütterlicherseits portugiesischer Herkunft, ist trotz zahlreicher Neuübersetzungen seines zutiefst europäisch geprägten Werks ein Fall für Liebhaber geblieben. Und João Guimarães Rosa, einst Botschafter in Hamburg und Paris, der mit „Grande Sertão“ den bedeutendsten brasilianischen Roman des 20. Jahrhunderts schrieb, wartet auf Berthold Zillys Neuübertragung.

Flucht aus der Ukraine

Bei Lispector, der im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern vor den aufkommenden Pogromen aus ihrer ukrainischen Schtetlwelt geflohenen Jüdin, die als Diplomatengattin später Jahre in der Schweiz und in Italien verbrachte, könnte man allerdings auch mutmaßen, dass die Wiederbelebung am falschen Ende begonnen hat.

„Ich habe eine zeitgenössische Autorin gefunden, die ich mag“, bekannte 1962 die große amerikanische Dichterin Elizabeth Bishop, die mit ihrer Freundin, der Architektin Lota Costallat de Macedo Soares, in Petrópolis lebte, und einige Lispector-Storys ins Englische übersetzte.

„Ihre zwei oder drei Romane halte ich für nicht so gut, aber ihre Kurzgeschichten gleichen fast genau denen, die, wie ich immer schon gedacht habe, über Brasilien geschrieben werden sollten – an Tschechow erinnernd, ein wenig unheimlich und fantastisch.“ Tatsächlich begann der Schöffling Verlag vor einigen Jahren mit der Neuübersetzung der Romane „Nahe dem wilden Herzen“, „Der Lüster“ und „Der große Augenblick“, ergänzt um Benjamin Mosers romanhafte Biografie, die als Einführung in Lispectors Welt unentbehrlich ist.

Erst jetzt, zum 100. Geburtstag am heutigen Donnerstag, liegen, nunmehr bei Penguin, nach „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ im vergangenen Jahr mit „Aber es wird regnen“ ihre sämtlichen Erzählungen vor: gerade in der Kürze hypnotisch funkelnde Texte, die man in der Blindverkostung nicht unbedingt einer einzigen Autorin zutrauen würde. Denn es finden sich verwirrend viele Töne.

[Clarice Lispector: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. 415 Seiten. Aber es wird regnen. Sämtliche Erzählungen I/II. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby. Penguin, München 2019/20. 283 Seiten, 24/22 €.]

Metafiktionales aus purem Eigensinn

Hoffnungslos Konventionelles wie „Obsession“, eine Eheausbruchsgeschichte der 21-Jährigen, an der doch schon alle auf Befreiung drängenden, zwischen Selbsterhaltung und Selbstzerstörung schwankenden Kräfte zerren, die Lispector ausmachen. Verspielt Metafiktionales, das sich aus purem Temperament in den eigenen Erzählschwanz beißt. Philosophisches wie „Die Henne und das Ei“, das nach analytischen Anfängen ins Absurde umschlägt. Oder poetisch Undurchdringliches, das aus kleinen Motiven labyrinthische Suiten entwickelt.

Nicht einmal innerhalb eines Zyklus herrscht ein einheitlicher Ton. Zum Beispiel „Der Kreuzweg des Leibes“. 13 innerhalb weniger Tage hingeworfene Geschichten. Stilistisch notdürftig aufgeräumt, voller loser Enden und abrupter Schlüsse. So viel Kunst im Unverkünstelten, so viel auf das Wesentliche gerichteten Improvisationsgeist, so viel spielerische Sicherheit im Unfertigen braucht ein ganz eigenes Talent. Clarice Lispector hatte es.

Ihre Prosa zehrt von einer wilden Einbildungskraft, die Literatur mindestens so sehr braucht wie alles Durchdachte und Ausgefeilte. Dabei rumpelt es auch syntaktisch immer wieder, was brasilianische Leser und Leserinnen als produktive Erweiterung ihrer Sprache naturgemäß deutlicher wahrnehmen, als es deutsche in Luis Rubys kongenialer Übersetzung tun werden.

Zunächst hatte sie gegen die Idee ihres Verlegers Álvaro Pacheco protestiert, sich angeblich wirkliche Begebenheiten vorzunehmen: Sie nehme keine Aufträge entgegen. Doch da war der Motor ihrer Fantasie schon angesprungen. Am nächsten Morgen setzte sie sich hin und warf bis zum nächsten Tag, dem Muttertag des Jahres 1974, die ersten drei Erzählungen hin.

Sex mit einem Wesen vom Saturn

„Miss Algarve“ berichtet von der wundersamen Verwandlung einer altjüngferlichen Londoner Büroschreibkraft in eine Verführerin, nachdem ihr eines Nachts ein natterngekröntes Wesen mit den Worten „Ich komme vom Saturn, um dich zu lieben“ ins Schlafzimmer weht. Die Verständigung erfolgt teils auf Sanskrit, teils in jener neuen Sprache, die sie, um sie nicht zu verlernen, mit einem x-beliebigen Mann übt, den sie am Piccadilly Circus abschleppt.

Gleich darauf „Der Körper“. Der mit einem Kinobesuch von Bernardo Bertoluccis „Letztem Tango in Paris“ einsetzende Bericht von einer bizarren ménage à trois lässt zwei Frauen mit Messern auf ihren untreuen Liebhaber losgehen und unter die Gartenerde bringen, was die Polizei nicht hindert, die beiden laufen zu lassen.

„Kreuzweg“ schließlich erzählt von einer unbefleckten Empfängnis, die zwei bibelkundige Eltern in eine ungewollte Maria-und-Josef-Situation bringt. Es endet mit einem typischen Lispector-Schlenker: „Man weiß nicht, ob dieses Kind den Kreuzweg hat durchlaufen müssen. Das tun alle.“

So schamlos geht es weiter: mit einer Greisin, der in ihrer zum eigenen Ärger nicht versiegenden Lust nur die Selbstbefriedigung bleibt; mit einer Nachtclubtänzerin, die ein befreundeter Transvestit in ihrer weiblichen Selbstgewissheit verletzt; und mit einer alternden Frau, die sich von ihrem jugendlichen Liebhaber nach Strich und Faden ausbeuten lässt.

Jede dieser Inszenierungen von Vereinsamung und Begehren ist grotesker als die andere, getragen von einer Bosheit, hinter der sich jedoch auch eine Menschenliebe verbirgt. „Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass das alles nicht mir, meiner Familie oder meinen Freunden passiert ist“, erklärt sie. „Woher weiß ich dann davon? Ich weiß es halt. Wir Künstler wissen über vieles Bescheid.“ Nachdem Clarice Lispector über Jahrzehnte in der weiblichen Psyche herumgestochert hatte, war nun die Physis an der Reihe.

Schönheit im somnambulen Schatten

Lispector hatte damals nur noch drei Jahre zu leben: Sie starb im Dezember 1977, einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag, an den Folgen eines Eierstockkrebses. Über ein Jahrzehnt nach ihrer Trennung von Maury Gurgel Valente war sie eine fragile, in ihrer Egozentrik selbst für Freunde schwer erträgliche Frau. Ihr älterer, seit Langem an Schizophrenie erkrankter Sohn Pedro war ein psychiatrischer Pflegefall. Von ihrer charismatischen Schönheit, mit der sie Männern einst durch ihre schiere Anwesenheit reihenweise den Kopf verdrehte, war nur ein somnambuler Schatten geblieben.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Im September 1966 war sie in ihrer Wohnung in Leme, einem schicken Stadtteil von Rio de Janeiro, wenige Schritte vom Strand, noch einmal dem Tod entronnen. Wie gewohnt hatte sie sich gegen 21 Uhr mit Schlafmitteln und Zigaretten ins Bett begeben. Gegen Morgen entdeckte eine Nachbarin Rauch aus Lispectors Wohnung. Die Wunden, die sie von dem Brand davontrug, brachten ihr mehrere Monate Krankenhaus ein, Operationen und Hautverpflanzungen, vor allem aber eine lädierte rechte Hand, die sie nur unter Mühen wieder auf der Schreibmaschine einsetzen konnte.

Das Vertrauen in die Literatur, die sie oft als Nebensache abgetan hatte, konnte ihr das nicht austreiben. „Jenseits des Ohrs ist ein Klang, am Rand des Blickfelds eine Gestalt, an den Fingerspitzen ein Gegenstand – da will ich hin“, heißt es in einem 1974 erschienenen Prosastück, in dem die profane Mystikerin Lispector spricht. „An der Bleistiftspitze ein Strich. Wo ein Gedanke ausatmet, ist eine Idee, am letzten Hauch von Freude eine andere Freude, an der Schwertspitze ist Magie – da will ich hin. An den Zehenspitzen der Sprung.“ Vor allem in den Erzählungen kann man sich damit an ihrer Seite eine ganze Fußbreit über den Boden erheben.

Zur Startseite