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Letzte Zeugin. Anita Lasker-Wallfisch überlebte Auschwitz und Bergen-Belsen.

© Film

Im Kino: "Wir sind Juden aus Breslau": Filmisches Denkmal

Die Dokumentation „Wir sind Juden aus Breslau“ erzählt bewegend von Geschichte und Gegenwart.

Breslau, durch Friedrich den Großen von den Habsburgern für Preußen erobert, war im wilhelminischen Kaiserreich einmal die drittgrößte deutsche Stadt nach Berlin und Hamburg. Als schlesische Industrie- und Kulturmetropole wurde Breslau zudem zu einem bedeutenden Zentrum des jüdischen Lebens. In der Weimarer Republik hatte die jüdische Gemeinde der Stadt knapp 25 000 Mitglieder. Während der Naziherrschaft wurden die meisten Synagogen dann beim Novemberpogrom 1938 zerstört, und tausende Menschen ab 1941 deportiert, die meisten in den Tod, teils nach Litauen oder ins nahe Auschwitz.

So wurde eine Tradition (fast) ausgelöscht, zu der seit dem 19. Jahrhundert Namen gehörten wie Ferdinand Lassalle, Mitbegründer der SPD und auf dem großen Jüdischen Friedhof von Breslau begraben. Oder die gebürtigen Breslauer Ferdinand Cohn, neben Robert Koch Vater der modernen Bakteriologie, der spätere Berliner Großkritiker Alfred Kerr, der Philosoph Paul Cassirer oder das Chemikerpaar Fritz Haber (Nobelpreisträger) und seine Frau Clara Immerwahr. Später als Holocaust-Überlebende Ignatz Bubis, der langjährige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, oder der erst im Mai in New York verstorbene Historiker Fritz Stern und sein betagter, inzwischen 95-jähriger Kollege Walter Laqueur.

Mehrere Holocaust-Überlebende werden ins Zeughaus kommen

„Wir sind Juden aus Breslau“ heißt jetzt der bewegende, fast zweistündige Dokumentarfilm der beiden Berliner Regisseure Karin Kaper und Dirk Szuszies. Uraufgeführt wurde der Film vergangenen Sonntag in Breslau (polnisch Wroclaw) im Rahmen des Programms als Kulturhauptstadt Europas 2016; am heutigen Samstag hat er seine Deutschland-Premiere beim Filmfestival in Cottbus, wo gerade Bundespräsident Gauck an der Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen ’38 teilgenommen hatte. Am Sonntag ist er, noch vor dem Kinostart, um 16 Uhr im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums zu sehen: in Anwesenheit mehrerer Holocaust-Überlebender, die nun Protagonisten dieses filmischen Denkmals sind. Eine Doku – und ein Memento.

Es sind 14 Zeitzeugen, unter ihnen hier in seinen letzten Filmauftritten der mit seiner Familie 1938 von Breslau nach Amerika emigrierte Fritz Stern. Der heute gleichfalls in New York lebende 88-jährige Historiker Abraham Ascher spricht mit Schülern aus Deutschland und Polen, die 2015 an einem gemeinsamen Workshop zum Thema jüdisches Leben, Sterben und Überleben in Breslau teilgenommen haben. Um das Aufeinandertreffen der letzten Zeugen mit den Mädchen und Jungen von heute ziehen die Filmemacher Kaper und Szuszies ihre behutsamen Kreise: von Breslau einst und jetzt, von Orten der Emigration mit Szenen auch aus Israel, den USA oder Frankreich, im Wechsel zwischen historischen und aktuellen Aufnahmen, Einzelinterviews, Dialogen mit den Jugendlichen und erstaunlichen Begegnungen.

Zukleisternde Sentimentalisierung vermeidet der Film

Trotz durchaus emotionalisierender Musik und auch pittoresker Bilder etwa vom Jüdischen Friedhof (mit den Einschussnarben von den Kämpfen zwischen Wehrmacht und Roter Armee 1945 auf noch vielen Gräbern) oder von der schön restaurierten Synagoge „Zum Weißen Storch“ – der Film vermeidet jede zukleisternde Sentimentalisierung. Es ist vielmehr erschütternd und erhellend, wie die heute 91-jährige Renate Lasker-Wallfisch, als Cellistin eine letzte Mitwirkende des Frauenorchesters von Auschwitz-Birkenau, vom Abschied von ihren ermordeten Eltern, vom gemeinsamen Überleben mit ihrer hier gleichfalls auftretenden Schwester Renate Lasker-Harprecht in Auschwitz und Bergen-Belsen erzählt und die Workshop-Schüler im Hof eben jenes Gefängnisses von Breslau trifft, wo sie und ihre Schwester im Herbst 1942 die Deportation erwarteten. Was im Spielfilm ein magischer Moment wäre: Abraham Ascher tritt mit den Schülern auf den Balkon, von dem vor 80 Jahren Hitler zu den jubelnden Breslauer Nazis sprach.

Heute im polnisch und katholisch gewordenen Wroclaw gibt es nur noch 350 Angehörige der Jüdischen Gemeinde, für die sich auch der amtierende Stadtpräsident Rafal Dutkiewicz so tatkräftig wie im Film erkennbar mitfühlend engagiert. Er verkörpert ein Gegengewicht zur neuen rechten, nationalistischen Regierung in Warschau. Und was die Doku gleichfalls zeigt: Gespenstisch grölende Aufzüge der Nationalisten und Antisemiten beim Polnischen Nationalfeiertag – und eine Gegendemo, mit dem Stadtoberhaupt an der Spitze. Peter von Becker

Am 13.11. um 16 Uhr im Zeughauskino des DHM, ab 17.11. Kino in der Brotfabrik, Eiszeitkino und Eva Lichtspiele.

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