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Wer sieht eigentlich was? Ayame Misaki und Masatoshi Nagase.

© Concorde

Im Kino: „Radiance“: Meine Augen, deine Augen

Ganz von Sinnen: In „Radiance“ erblindet ein Fotograf, und eine Frau versucht, das Sehen hörbar zu machen. Der japanischen Regisseurin Naomi Kawase ist mit dem Film eine poetische Wahrnehmungsstudie gelungen.

Misako verfasst Audiodeskriptionen für Blinde und Menschen mit Sehbehinderungen. Es ist weniger Altruismus, der sie zu diesem Beruf geführt hat, als vielmehr ihre Leidenschaft fürs Kino. Sie ist mit ihrem Leben unzufrieden und kann ihre Traumata nicht bewältigen: Vor Jahren verschwand ihr Vater im Wald, er gilt als tot, und ihre Mutter versinkt in Demenz.

Das Kino ist Misakos Fluchtzone. Gerade stellt sie in einem Aufnahmestudio vor einer Testgruppe den ersten Entwurf ihrer Beschreibung eines Liebesdramas zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau vor. Leere Blicke, geschlossene Augen und mittendrin Misako (Ayame Misaki). Ruhig zählt sie auf, was sie alles auf der Leinwand sieht: einen Mann, der zu einem Termin eilt; eine Frau, die Selbstgespräche führt; Menschen, die zwischen hupenden Autos die Fahrbahn überqueren; ein Haus mit traditionellen japanischen Dachziegeln ... Die Testgruppe äußert Vorschläge und Änderungswünsche; manche finden, dass man die Handlung auch anders beschreiben könnte. Statt von „schwarzen Haaren“ solle Misako doch besser von „dunklen Haaren“ sprechen, erklärt eine Frau, das ließe der Vorstellungskraft mehr Raum. Der Ton in der Gruppe ist durchaus freundlich. Nur Nakamori (Masatoshi Nagase) wird unwirsch und kritisiert Misakos Deskription scharf, er findet sie „aufdringlich“, distanzlos. Sie ist fassungslos, zutiefst verletzt.

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Fixe und bewegte Bilder, die sich aus dem Licht heraus bilden, das Sehen und die Wahrnehmung sind die Koordinaten in „Radiance“. Mit ihrem neuen Film legt die japanische Regisseurin Naomi Kawase, 1969 in Nara geboren und mit Filmen wie „Kirschblüten und rote Bohnen“ oder „Still the Water“ Spezialistin für verwundete Seelen, eine bewegende Selbstermächtigungs- und Liebesgeschichte vor und zugleich eine Hommage an die Macht und die integrative Kraft des Kinos. Die Vermittlerfunktion des Kinos, Visionen und Geschichten für potenzielle Zuschauer bereitzuhalten, wird hier kritisch gedoppelt in Misakos verbaler Vermittlung von Kinobildern für die Sehbehinderten. Kawase findet mühelos eine adäquate Haltung für ihre Protagonisten, etwa wenn sie diese in wiederkehrenden Close-ups groß macht. Die Frage ist ja, wem es hier an Fantasie mangelt, dem berühmten Fotografen Nakamori, der wegen einer degenerativen Erkrankung allmählich sein Augenlicht verliert, oder Misako, die zwar sehr gut sieht und präzise beschreibt, dabei aber Wesentliches nicht wahrnimmt.

Nakamori ist das geheime, verstörende Zentrum dieses Films. Die Tragik seines Schicksals entfaltet sich still, aber mit voller Wucht. Noch nimmt er vage Bildausschnitte wahr, ein Licht- und Schattenspiel, völlig verschwommen, aber auch das verschwindet, selbst Hell und Dunkel nimmt er bald nicht mehr wahr. Als Nakamori eines Tages wegen der ihn umgebenden Dunkelheit glaubt, es sei Abend, dann aber erfährt, dass es neun Uhr morgens ist, begreift er seine totale Erblindung. Und doch verweigert er sich der Opferrolle. Zwischen Bitterkeit und Verzweiflung, Resignation und Wut erkämpft er sich jeden Tag, jeden Schritt, jedes Verständnis neu.

Eine große Metapher über das Kino und die Kunst des Sehens

Nakamori ist ein fordernder Mensch. Selbstbewusst verweist er mit seiner ganzen Existenz auf die überschreitende Qualität von Sinneswahrnehmungen, Kawases Film tut es ihm gleich. Gibt es Dinge, die wir nicht verstehen, obwohl wir sie sehen? Und umgekehrt: Gibt es Dinge, die wir verstehen, obwohl wir sie nicht sehen? All diese Erwägungen verwandelt die Regisseurin in eine große Metapher des Kinos und der Kunst des Sehens.

Nakamori will aus dem Inneren heraus sehen, statt zu hören, selbst deuten, nicht erklärt bekommen. Dass Misako nach und nach versucht, seine Wahrnehmung nachzuvollziehen, lässt sie erkennen, dass Bilder und Worte, Kino und Leben nicht identisch sein können. Kawase geht es wohl um die Sensibilisierung dafür, dass es die „richtige Fassung“, die eine, alleingültige Sichtweise nicht gibt. In der Dunkelheit des Kinosaals vereint sie ihren Spielfilm mit dem Film-im-Film, aber auch die Vergangenheit mit der Gegenwart, etwa wenn die japanische Filmlegende Tatsuya Fuji, bekannt aus „Im Reich der Sinne“, als alter Mann auftritt. In Nakamoris schwebend schönen Fotografien entdeckt Misako schließlich eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit. Am Ende heißt es: „Nichts ist so schön wie das, was vor unseren Augen verschwindet“.

Filmkunst 66, OmU: Central Hackescher Markt, Moviemento

Anke Westphal

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