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Eine Frau in den USA trägt während eines Spaziergangs eine Stoffmaske, auf der ein Bild einer Hundeschnauze gedruckt ist.

© Elise Amendola/AP/dpa

Im Angesicht von Angst und Unsicherheit: Warum wir in der Pandemie auch die Freiheit schützen müssen

Der Sieg über Corona kann auf Dauer nicht oberste politische Maxime sein. Solch ein Denken gefährdet die Demokratie. Ein Gastbeitrag.

Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin und Gründerin des Hannah-Arendt-Zentrums an der Universität Oldenburg.

Als das Virus sich in Lichtgeschwindigkeit verbreitete, hissten die Regierungen innerhalb weniger Wochen die weiße Fahne. Die Deutung der viralen Katastrophe übernahmen die Virologen. Die Minister verlautbarten, was ihnen die Wissenschaftler vorgaben. Was konnten sie auch anderes tun?

Zunächst übernahmen die Virologen die Deutungshoheit. Dann traten immer mehr Spezialisten auf den Plan - und plötzlich war nichts mehr sicher.

Weder wusste man, wie genau das Virus entstand, noch, mit welchen Symptomen es ausbricht. Auch die Infektionszahlen waren nicht mehr sicher. Niemand konnte sagen, wie viele Mitbürger infiziert inmitten ihrer Mitmenschen leben und ahnungslos das Virus weitergeben.

Und selbst bei den Toten war oft nicht klar festzustellen, woran sie gestorben waren. Irgendwann wurde offenbar, dass die Virologen Erklärungsversuche abgaben, die in der Folge verifiziert oder falsifiziert wurden. Wurden sie falsifiziert, dann stellte man neue Thesen auf, je nach Stand der Forschung und dem Material, das der Forschung vorlag. Das ist Wissenschaft. Unsicherheit griff um sich, wo Sicherheit schwand.

Ich fühlte mich doppelt bedroht

Derweil wurde der Souverän zeitweilig aus dem Sattel gehoben, das öffentliche Leben abgeschaltet, Bürgerinnen und Bürger waren von heute auf morgen auf ihr physisches Überleben zurückgeworfen. Die Gesellschaft bestand nur noch aus Individuen. Familien wurden wie Individuen als Einheit verrechnet.

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Wie auf den Gemälden de Chiricos erschienen die Städte als leere Flächen, auf denen die Individuen ihre langen Schatten werfen. Die Städte schwiegen. Kommunikation fand hinter verschlossenen Türen statt.

Ich erschrak, wenn ich auf den leeren Straßen lautes Sprechen hörte. Eine Frau in der Schlange vor dem Supermarkt schrie mich an: „Halten Sie gefälligst den richtigen Abstand! Sie sind eine Gefahr für Ihre Mitmenschen!“

Ich fühlte mich doppelt bedroht: einmal von meinen Mitmenschen, die mich entweder demonstrativ anrempelten, weil sie sich über die staatlich verordneten Einschränkungen ärgerten oder in vorauseilendem Gehorsam den staatlichen Kommandoton übernahmen. Zum anderen ängstigte ich mich vor einem unsichtbaren Gegner, der deutliche Spuren hinterließ, sich aber nicht zu erkennen gab.

Nun war die Stunde der Verschwörungstheoretiker gekommen. Im Netz zirkulierten die wüstesten Theorien: Die Regierungen sind schuld, die Juden sowieso, die Chinesen, die Fremden, das Weltkapital, Bill Gates …

Wie einfach ist das, den Menschen auf ein furchtsames Wesen zu reduzieren. Hat sich so wenig geändert seit dem 17. Jahrhundert, als Thomas Hobbes erklärte, Politik sei erst möglich, wenn die Sicherheit von Leib und Leben garantiert ist?

Hobbes schlug seinerzeit vor, alle Handlungsmacht der Bürger an den Staat abzutreten, der im Gegenzug für die Sicherheit aller bürgen könnte. In manchen Ländern hat sich in den nachfolgenden Jahrhunderten die Gesellschaft der Bürger vom Staat emanzipiert.

Leben ohne Maske und Urlaub

Die Geschichte der Revolutionen und die Idee der politischen Freiheit erzählen davon. Aber immer wurde am Bild des Staates als Garant für Leib und Leben festgehalten. Doch kann der Staat nur anstreben, für die Sicherheit von Leib und Leben zu sorgen, wirklich garantieren kann er sie nicht.

Inzwischen ist der Lockdown teilweise aufgehoben. Politikerinnen und Bürger treffen sich wieder persönlich, das Homeoffice wird in die Institutionen und Betriebe zurückverlagert. Schulen öffnen langsam wieder, Kindergärten. Bürger erlangen wieder ihre ganz persönliche Freiheit.

Menschen atmen auf. Leben ohne Maske, wie schön. Urlaub, jaaa! Die Kneipen füllen sich wie die Restaurants, fast wie im Süden. Das Leben kann so leicht sein. Und so tragen die einen keine Maske mehr, die anderen tragen sie, wo es angeordnet ist – und schließlich jene, die wie strenge PädagogInnen mit der Maske auf dem Fahrrad durch die Lande fahren – die Aerosole können ja schließlich überall lauern.

Die Pandemie fängt an zu nerven

Die Wissenschaft hat dazugelernt, erste Forschungsergebnisse liegen vor, sind aber wieder nicht eindeutig. Nach dem Impfstoff wird noch gefahndet. Und so versucht der medienwirksamste unter den Virologen, den FernsehzuschauerInnen ein größeres Verständnis für die Unwägbarkeiten der Faktenfindung abzuringen. Da ist dann viel die Rede von: vielleicht, möglich, Vorsicht, Gefahrenpotenzial, Risiko, unabsehbar …

Noch dazu jetzt die ersten Rückschläge: regionale Infektionsblasen, ganze Wohnviertel werden unter Quarantäne gestellt, Fabrikbelegschaften müssen zu Untersuchungszwecken kaserniert werden. Irgendwie fängt diese Pandemie an zu nerven, indem sie auf unangenehmste Weise willkürlich in unsere ganze Lebensweise eingreift.

Soll nun alles wieder von vorne anfangen? Klarheit ist gefordert – und Sicherheit, wozu hat man denn die Wissenschaft und die Politik.

Wenn Bios sich mit der Exekutive verbündet, ist Gefahr im Verzug

Es scheint, als ob in dieser unübersichtlichen Situation Bios darauf drängt, die Herrschaft über den Demos zu übernehmen.

Was ist Bios? Bios ist die Dominanz der Epidemie über die Demokratie. Bios ist die Herrschaft der Natur über die Zivilgesellschaft. Bios ist die Stigmatisierung von Altersgruppen und von Kranken. Bios ist das Denken, wonach das Leben mehr wert ist als die Freiheit. Bios ist die vorauseilende Bereitschaft der Bürger, auf Freiheitsrechte zu verzichten. Bios ist der Glaube, als würde die Wissenschaft die Wahrheit verkünden. Bios ist die kreatürliche Angst, die nach Schutz sucht und kein Risiko eingehen will. Wenn Bios sich mit der Exekutive verbündet, ist Gefahr im Verzug. Dann ist es Zeit, die Zivilgesellschaft aufzurufen.

Paradoxerweise waren es nun die Populisten und die Rechtsradikalen, die die Freiheitsrechte einklagten. War von ihnen, den Staatshassern und „System“-Kritikern etwas anderes zu erwarten? Doch Achtung, hinter ihrem Freiheitsstreben lauert Bios, der Glaube an Naturgesetze in der Politik, an das Recht des Stärkeren, an die Ethnie und die exklusive Nation.

Es ist höchste Zeit, dass wir Bürgerinnen und Bürger uns darauf besinnen, wie sehr die freiheitliche Zivilisation und Demokratie unseres Schutzes und der Regeneration bedarf. Der Sieg über die Pandemie und die Eindämmung der Klimaschäden kann nicht oberste politische Maxime sein. Es gibt eine Freiheit, die über Bios und das individuelle Leben hinausreicht. Die haben wir bisher für geschenkt genommen. Ist sie aber nicht.

Antonia Grunenberg

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