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Ein Ambiente zwischen Turnhalle und italienischem Palazzo: Nick Cave im „Alexandra Palace“ in London.

© dpa

„Idiot Prayer“: Nick Cave-Konzert im Live-Stream

Die nackte Version: Im Konzertfilm „Idiot Prayer“ spielt sich Nick Cave solo durch sein Werk – der Stream ist einmalig online zu sehen.

Bei allem, was Nick Cave in den vergangenen Jahren tat, ging es immer auch um den Tod seines 15-jährigen Sohnes. Arthur Cave ist 2015 im ersten LSD-Rausch von einer Klippe gefallen. Dieser Schicksalsschlag legt sich seither wie ein Schatten über Nick Caves Werk, auch über die Mischung aus Talk-Abend, Konzert und Therapiesitzung vom Mai 2019.

Unter dem Titel „Conversations With Nick Cave“ lässt sich der Musiker im Berliner Admiralspalast vom Publikum befragen. Es geht viel um den Menschen Nick Cave. Er gibt Auskunft darüber, wie er mit dem Verlust umgeht und spielt dazwischen Songs allein am Klavier.

Diese nackten Versionen seiner Stücke gefallen ihm so sehr, dass er daraus ein Album formen will, entscheidet sich dann aber, sie in einem Konzertfilm festzuhalten. Im Juni 2020 wird dieser Realität, in London, unter strengen Corona-Auflagen. Er heißt „Idiot Prayer – Nick Cave Alone At Alexandra Palace“ und ist einmalig am heutigen Donnerstagabend online zu sehen.

Automatisch sucht man in den Songtexten nach Spuren, die sich als Hinweis auf die Wunden lesen lassen, die der Tod des Sohnes in seiner Seele hinterlassen hat. Interessanterweise auch bei Stücken, die Cave schon vor dessen Geburt geschrieben hat. So illustriert der Film, wie Kunst arbeitet, wie sie gärt und sich wandelt.

Die Songs spielt er kommentarlos, gefasst, ohne Gefühlsausbruch

Cave spielt sich quer durch sein 40 Jahre umfassendes Werk. Viele ältere Songs haben es unter die 22 Titel geschafft, die der Musiker in die 90 Minuten packt. Berühmtes wie „The Ship Song“, „Into My Arms“ und „Jubilee Street“, aber auch Überraschendes wie „Papa Won’t Leave You, Henry“.

Das Hinhören auf die Texte fällt leicht, da Cave alles herausnimmt, was die lyrische Qualität seiner Arbeiten überlagern könnte. Er begleitet seine Bariton-Stimme am Klavier – das ist alles. Leicht nach vorn gebeugt spielt er Song auf Song, kommentarlos, gefasst, ohne Gefühlsausbruch. Nur als er sich beim letzten Ton von „(Are You) The One That I’ve Been Waiting For?“ verspielt, muss er lachen.

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Die Kamera fährt nah an ihn heran, an die Hände mit den goldenen Ringen und an die eigentümliche Physiognomie, die kurze Nase, die strengen blauen Augen unter den dichten Brauen.

In Szene setzt ihn Kameramann Robbie Ryan, der schon für Filme wie „Marriage Story“ und „The Favourite“ die Bildsprache gefunden hat. Hier wechselt er von Lied zu Lied die Beleuchtung des Raumes, der wie eine Kreuzung aus Turnhalle und psychedelischem Palazzo anmutet.

Ryan und Cave scheuen jedoch nicht davor zurück, mit der Illusion eines hermetischen Musikerlebnisses zu brechen. Mikros unter dem Flügel, die Lichtkonstruktionen unter der Raumdecke, Kameraassistenten, die für Momente im Bild erscheinen: Die Bedingungen, unter denen die Aufnahmen entstehen, sind Gegenstand der Erzählung.

Kameramann Robbie Ryan setzte das Konzert in Szene

Zu „Man In The Moon“, einem Stück von Caves Seitenprojekt Grinderman, lässt Ryan den Musiker im Dunkeln spielen. Lichtkegel durchstreunen den Saal, während die Leuchten des Aufnahmeequipments wie in einer NASA-Schaltstelle durch die Finsternis glühen.

Den Film prägt ein Minimalismus, der sich sowohl musikalisch als auch konzeptionell äußert. Ihm ist es geschuldet, dass das Konzerterlebnis für ein Publikum, das nur oberflächlich mit Caves Werk in Berührung gekommen ist, durchaus Längen hat. Eine Chance, sich mit den puristischen Songfassungen vertraut zu machen, gibt es nicht, da sich der Stream weder pausieren noch vor- oder zurückspulen lässt. Auch wiederholen kann man ihn nicht.

In der zweiten Hälfte des Konzertes platziert Cave druckvollere Stücke wie „Mercy Seat“ und „Higgs Boson Blues“, die den Gleichklang der Balladen unterbrechen. Dabei erreicht sein Vortrag jene Intensität, mit der der Frontmann ein Konzertpublikum förmlich zu hypnotisieren versteht – ein kleines Stück Live-Erfahrung, derzeit rar und gern gesehen.

[Do, 23. Juli, 21 Uhr, Tickets zum Stream gibt es auf der Seite dice.fm, 18 €.]

Am Ende erhebt sich Nick Cave wortlos von seinem Schemel und geht, so lässig wie entschieden, den Lichtstrahlen im Hintergrund entgegen. Er spricht diesmal nur durch seine Songs. Der Mensch bleibt stumm.

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