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Kleiner Karneval. Alexander Khuon und Natali Seelig in Thomas Melles „Ode“.

© Arno Declair

Identitätspolitik in der Kunst: Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum?

Uraufführung am Deutschen Theater: Thomas Melle fragt, ob Menschen in die Haut von anderen schlüpfen dürfen.

Irgendwann an diesem zweistündigen Abend in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin hockt ein Künstler namens Orlando (Manuel Harder) mit einem Wischtuch auf dem Boden und putzt. Die hinzutretende Kollegin (Katrin Wichmann) ist entsetzt: „Du kannst nicht so tun, als wärst du Reinigungspersonal“, ruft sie. Ab jetzt, erklärt sie ihm, dürfe er nur noch über sich selbst erzählen, jedenfalls „nie von anderen unter dir“.

Es ist die zentrale Debatte des gegenwärtigen Kunst- und Kulturbetriebs, die hier von den beiden Schauspielern in darstellerischer Bestform verhandelt wird: Wer darf über und für wen sprechen? Wo verlaufen Grenzen des Darstellbaren?

Und wer sagt eigentlich, um mit dem Lappen schwingenden Künstler zu sprechen, dass es die Putzfrau nicht vielleicht begrüßen würde, wenn er sich mehr für sie interessierte als für sich selbst, sprich: seine Identitätsprobleme? Entlarvt nicht auch die Zuschreibung von „den anderen unter dir“, die der Kollegin so selbstverständlich über die Lippen flutscht, ihrerseits ein Denken, das blind ist für das eigene Kategorisierungssystem?

Der Autor und Dramatiker Thomas Melle hat all diese Fragen in einem Auftragswerk fürs DT auf den Punkt gebracht, das zu den klügsten Theatertexten der Saison gehört – mindestens. Denn es dekliniert das Sujet auf einem Niveau durch, das nicht nur kulturbetriebliche, sondern auch höchste soziologische Diskursfitness und -finesse verrät: ein seltener Glücksfall.

Ausgangspunkt des Geschehens ist das Werk einer Künstlerin, deren Name – Fratzer – nicht umsonst auf Bertolt Brechts „Fatzer“ rekurriert. Wie in jenem Lehrstück-Fragment über das Verhältnis zwischen revolutionärer Aktion, Individuum und Kollektiv, das natürlich auch eines zwischen Kunst und Gesellschaft ist, kommen alle widerstreitenden Positionen zu Wort, werden gedankenscharf auf die Spitze getrieben und dialektisch durchgespielt.

Soziale Plastik aus nichts

Frau Professor Anne Fratzer hat eine soziale Plastik geschaffen, die, ganz buchstäblich, aus nichts besteht und „Ode an die alten Täter“ heißt. Im allgemeinen Kulturbetriebsgeplänkel dauert es freilich eine Weile, bis die Vernissage-Gäste, die sich in Lilja Rupprechts Urinszenierung in einem weißen Bühnenrund zusammenfinden, die Provokation bemerken.

„Es ist monumental, weil es nichts ist“, schwärmt Alexander Khuon als einer der Kunstbetriebsprofis, die die Kostümbildnerin Christina Schmitt in nerdige Ganzkörperstrickanzüge mit latentem Kettenhemd-Appeal gesteckt hat. Bis bei einer anderen Betrachterin (Natali Seelig) der Groschen fällt: eine „Ode“ an „Täter“? Geht das?

Frau Fratzer (Katrin Wichmann) erklärt: Hätten die „alten Täter“, die Nazis, ihren Großvater nicht umgebracht, einen „Säufer, Kokainisten, Vergewaltiger, Kinderschänder und Mörder“, hätte der seinerseits die Familie getötet. „Das ist die Spannung, die wir vielleicht nicht aushalten werden“, sagt Fratzer und behält recht: Sie wird innerbetrieblich denunziert, als Rektorin der Kunstakademie abgesetzt und begeht später Suizid.

Rhetorik eines Lehrstücks

Anlässlich ihres zehnten Todestages lädt ein jüngerer Kollege, ebenjener Orlando, zur „öffentlichen Probe des Stücks ,Ode an die alten Mörder‘“ ein. Und stellt in bester Lehrstück-Rhetorik gewichtige Fragen in den Bühnenraum, dessen weiße Wände inzwischen vornehmlich von Juliana Götze und Jonas Sippel, zwei Gastspielern vom Berliner Rambazamba-Theater, mit Slogans und Symbolen beschrieben wurden.

Wer darf was sagen und wer kann darüber entscheiden, wer was sagen darf? Wo sind Einwände berechtigt und wo werden Gegenargumente einfach nur in Reizwort-Debatten narkotisiert? Soll Kunst zeigen, was sein sollte – oder zeigen, was ist?

Die Diskussion, die in der Putzfrauen-Szene kulminiert, gestaltet sich so schwierig, dass Orlando irgendwann verzweifelt fragt: „Meine Freunde, wie seid ihr mir zum Feind geworden? Erinnert euch, wir waren gegen die Identitäten, wir glitten durch sie alle hindurch, selber gebrochen, selbst uneins.“

In Schönheit sterben

Und während sich die Fratzer-Reanimateure darüber entzweien, ob das Denken in Identitäten tatsächlich ein Fort- oder ein Rückschritt sei, während Orlando für „die Ambivalenzen“ eintritt und seine Spielpartnerin nur „Zuschreibungen“ sieht, hat sich draußen unterdessen die „Wehr“ konstituiert, eine (kunst-)diktatorische Truppe mit Deutschlandfahne und schwarzen Anzügen, die in AfD-Rhetorik nach den „Originalkostümen“ fragt und zufrieden feststellt, dass diese Art von Kunst sich ja „in vorauseilendem Gehorsam als sterbende Schönheit schön selber“ abschaffe.

Melles Text und Rupprechts Inszenierung geben keine simplen Ratschläge und schon gar keine schlichten Antworten. Vielmehr stellen sie, angemessen komplex, die richtigen Fragen.

Wieder am 27. 12., 8. und 21.1.

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