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Treibgut wie wir. Eisschollen auf dem deutsch-polnischen Grenzfluss Oder im brandenburgischen Frankfurt.

© picture alliance / Patrick Pleul

Ideengeschichte: Der weite Weg von innen nach außen

Neu aufgelegt: Der Germanist Helmut Lethen und seine "Verhaltenslehren der Kälte".

Von Gregor Dotzauer

Schon bei ihrem ersten Erscheinen 1994 umgab die „Verhaltenslehren der Kälte“ ein unheimliches Leuchten. Der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen hatte sein Leib-und-Magen-Thema, die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik, ins Anthropologische erweitert.

In Texten von Bertolt Brecht, Ernst Jünger, Walter Serner und Carl Schmitt entdeckte er einen Typus von Mensch, der das Produkt seiner Epoche war und zugleich für eine allgemeine Haltung zur Welt stand. Dies war die große Provokation der ideenhistorischen Studie, die ansonsten allein durch ihren theoretischen Horizont querstand zum germanistischen Normalbetrieb.

In seinen Lektüren entwirft Lethen eine „kalte persona“, die den Schützengräben des Ersten Weltkriegs mit gepanzertem Ich entstiegen war. Mit Brecht interpretiert er das verdreckte soldatische „Grabenschwein“ und den Bürger, der sich inmitten einer ausgenüchterten Bauhaus-Ästhetik Reinigungsritualen unterwirft, als ein und dieselbe Figur.

[Helmuth Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 377 Seiten, 22 €.]

Der Zugang zu sich selbst ist diesem männlichen Typus verwehrt, ja er hat gar kein Interesse, den Weg nach innen anzutreten, wie ihn die Psychoanalyse proklamiert. Stattdessen dominiert eine „Psychologie des Außen“. Nicht Introspektion, so Lethen, Bewegung sei die Parole.

Seine Argumente entwickelt er entlang von zwei einflussreichen Schriften. Der Soziologe Helmuth Plessner liefert ihm mit „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) ein Menschenbild, das das kulturell Geprägte, das Künstliche, gegen jede Form falsch verstandener Natürlichkeit betont.

Propagandist der immerwährenden Verkleidungen

Plessner ist der Propagandist der immerwährenden Masken und Verkleidungen, hinter denen sich nichts Authentisches verbirgt. Baltasar Gracián, ein spanischer Jesuit des 17. Jahrhunderts, liefert ihm mit dem berühmten „Handorakel“ die Grundlagen einer der Moderne zugewandten, ganz auf äußeres Handeln bezogenen Verhaltenslehre.

Die latente Sympathie für das neusachliche Modell, das weit über die „Lebensversuche zwischen den Kriegen“ des Untertitels hinausging, war vor bald drei Jahrzehnten auch von der Ablehnung einer bundesdeutschen Gemütlichkeits- und Betroffenheitskultur getragen. In welchem Feld aber wären die „Verhaltenslehren“ heute anzusiedeln?

In der Neuauflage seines Opus magnum versucht der inzwischen 83-jährige Autor selbst eine Antwort. Das mit Anmerkungen fast 80 Seiten umfassende Nachwort unter dem Titel „Im Freiheitsraum der Kälte“ sucht einerseits Abstand zum „virilen Habitus“ von einst, leugnet andererseits aber nicht, die anhaltende Abscheu vor allzu schlichten humanistischen Perspektiven.

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Darüber hinaus kommt Lethen allerdings nicht weit, sein theatrum mundi, in dem auch der Hochstapler eine Rolle spielt, in eine massiv virtualisierte, vom Social-Media-Schein gelenkte Phase zu überführen, die alle Begriffe von Ehrlichkeit und Verstellung, Nähe und Distanz auf den Kopf stellen könnte. Im Großen und Ganzen rekapituliert der Autor reichlich eitel den Wirbel, den das Buch seinerzeit auslöste und blickt auf die Konsequenzen für seine nachfolgenden Bücher.

Die Aktualisierung, zu der auch ein Blick auf die Erfahrung des Krieges im 21. Jahrhundert gehören müsste, liegt wohl ohnehin an anderen. Wer auch immer sie aber leistet, wird es schwer haben, dieses Buch an Beobachtungsschärfe und gedanklichem Reichtum zu übertreffen.

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