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Der Literaturkritiker Denis Scheck.

© picture alliance / Rolf Vennenbernd / dpa

Ian McEwan, Saša Stanišic und Lucinda Riley: Denis Scheck kommentiert die Bestsellerliste

Einmal monatlich bespricht der Literaturkritiker die „Spiegel“-Bestsellerliste - parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“. Diesmal: die Rubrik Belletristik.

10) Ursula Poznanski: Erebos 2 (Loewe, 512 S., 19,95 €)

Der schöne Begriff Schadsoftware erhält in diesem Buch über ein sich verselbstständigendes Computerspiel eine ganz neue Bedeutung: Ursula Poznanski gelingt ein spannendes Jugendbuch über die sich auflösende Grenze zwischen realer und virtueller Wirklichkeit.

9) Ildikó von Kürthy: Es wird Zeit (Wunderlich, 384 S. 20 €)

Mutter ist tot, die Kinder sind aus dem Haus, in der Ehe ist der Ofen aus, die einstige beste Freundin stirbt an Krebs: Kürthys Romanheldin ist wahrlich nicht zu beneiden. Aber Chapeau vor einer Autorin, die es schafft, einem solchen Stoff einen zwar illusions-, aber nicht hoffnungslosen Unterhaltungsroman abzuringen!

8) Volker Klüpfel, Michael Kobr: Draußen (Ullstein, 384 S., 19,99 €)

Mut zur Neuerfindung haben sie ja, die Autoren der Kultkrimis um Kommissar Kluftinger. In ihrem neuen Buch verzichten sie auf den Allgäuer, aber sie verzichten dadurch eben auch auf ihre größten Stärken: Humor und Ortskenntnis. Ergebnis ist so ein gewaltgeiler, abstrus konstruierter Thriller über Prepper, einen Blackout in Deutschland und korrupte Fremdenlegionäre.

7) Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse (Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Hanserblau, 461 S., 22 €)

Ein merkwürdiger Zwitter von einem Buch: die eine Hälfte enorm eindrückliche Naturschilderungen aus dem Marschland North Carolinas, die andere Hälfte ein Krimi über ein Mädchen, das als eine Art moderner Menschenjunge Mogli aus dem „Dschungelbuch“ von Mutter, Vater und Geschwistern verlassen aufwächst und dann in einen Mordfall verstrickt wird. Ergebnis: ein Nature Writing Thriller. Interessant.

6) Ian McEwan: Die Kakerlake (Deutsch v. Bernhard Robben, Diogenes, 133 S., 19 €)

„Als Jim Sams, klug, doch beileibe nicht tiefgründig, an diesem Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine ungeheure Kreatur verwandelt.“ In Ian McEwans Brexit-Satire und Parodie auf Franz Kafkas „Die Verwandlung“ erwacht eine Kakerlake eines Morgens als britischer Premierminister. Doch für Literatur bedarf es eben doch mehr als einer bloßen lustigen Idee, und deshalb verröchelt dieser Kurzroman in seinem eigenen Witz nach viel zu langen 130 Seiten.

5) Jojo Moyes: Wie ein Leuchten in tiefer Nacht (Deutsch von Karolina Fell, Wunderlich, 544 S., 24 €)

Jojo Moyes’ neuer Roman erzählt eine wahre Geschichte: Als Strukturfördermaßnahme im Rahmen von Präsident Roosevelts New Deal wurden im amerikanischen Bundesstaat Kentucky 1937 sogenannte Packhorse Libraries gegründet. Reitende Bibliothekarinnen versorgten die Bevölkerung abgelegener Landstriche mit Lesestoff. Die reale Geschichte ist toll, die literarische Bearbeitung von Jojo Moyes ein Grauen. Was mich auf eine in der Literaturkritik bewährte equestrische Formel zurückgreifen lässt: Wäre dieser Roman ein Pferd, man müsste es aus Mitleid erschießen.

4) Saša Stanišic: Herkunft (Luchterhand, 368 S.,22 €)

Unser Blut und der Boden, auf dem wir geboren wurden, definieren nicht, wer wir sind. Die Natur kennt weder Deutsche noch Bosnier. Diese Erkenntnisse setzt Saša Stanišic in diesem grandiosen Roman über die Suche nach seinen bosnischen Wurzeln in ein formal bestechend konstruiertes Leseabenteuer um seine Großmutter und andere Drachen.

3) Jussi Adler-Olson: Opfer 2117 (Deutsch von Hannes Thiess, DTV, 592 S., 24 €)

Über 18 000 Menschen sind seit 2014 auf der Flucht vor Armut und Unterdrückung im Mittelmeer ertrunken. Das ist schlimm. Schlimm ist aber auch dieser Krimi, der den vermeintlichen Unfalltod einer Ertrunkenen zum Ausgangspunkt einer absurden Rachegeschichte inmitten des Kriegs nimmt: leidlüstern, haarsträubend unlogisch, klischeeüberfrachtet. Literarisches Junk Food.

2) Sebastian Fitzek: Das Geschenk (Droemer, 367 S., 22,99 €)

Glauben Sie, man gelangt zu einer schönen Seele, wenn man Sätze lesen muss wie: „Ein stark keuchender 120-Kilo-Sack mit Mettwurstatem schob ihm gerade etwas ins Rektum, das sich wie ein stacheldrahtbewehrter Morgenstern anfühlte“? Oder Sätze wie „,Ganz genau’, antwortete Jakob, griff sich an die hintere Hosentasche, zog das Springmesser hervor und rammte es ihr ins Auge“? Oder Sätze wie: „Milan (…) spürte den Schmerz aller vergangenen Wunden in seinem Körper aufflammen. Die im Wäscheschacht ausgekugelte Schulter, den mehrfach gebrochenen Schädel, die vernarbte Schusswunde in der Brust und das frische Ziehen in den Eingeweiden, das von der Vergewaltigung herrührte.“ Ich spüre auch ein frisches Ziehen, und zwar in meinem Hirn, das von der Vergewaltigung durch diesen miesen Gewaltporno herrührt.

1) Lucinda Riley: Die Sonnenschwester (Deutsch von Sonja Hauser, Sibylle Schmidt, Ursula Wulfekamp, Goldmann, 832 S., 22 €)

Wenn Sie soziale Konditionierung im modernen Frauenroman erfahren wollen, lesen Sie dieses Buch. Schon auf Seite eins werden Sie über Sätze stolpern wie: „Wenn es ihr nicht nur wichtig gewesen wäre, intelligent zu wirken, hätte sie durchaus attraktiv sein können.“ Band sechs der Reihe um sieben Schwestern, die nach dem Tod ihres Adoptivvaters ihre Herkunft zu klären versuchen, diesmal mit einem internationalen Modemodel als Heldin, ist genauso unterirdisch, reaktionär und albern wie die vorangegangenen. Mit Karl Lagerfeld gesprochen: Dies ist das buchgewordene Pendant zu einer Jogginghose: Wer es liest, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

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