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Wissenschaft und Literatur. Ian McEwans Buch „Erkenntnis und Schönheit“ erscheint im September bei Diogenes.

© imago/Leemage

Ian McEwan im Interview: „Ein nahezu perfekter freier Geist“

Goethe-Medaille für den britischen Denker und Schreiber Ian McEwan: Ein Gespräch über den Weimarer Geheimrat, den Brexit und Nacktbaden in Berlin.

Viele Bücher des Schriftsteller Ian McEwan wurden Bestseller: „Maschinen wie ich“ oder „Saturday“. Einige seiner Romane ("Abbitte", „Kindeswohl“, „Am Strand“) wurden auch verfilmt. Außerdem wurde Ian McEwan, 1948 in England geboren, mit zahlreichen Preisen geehrt.

2020 verleiht ihm das Goethe-Institut nun zusammen mit der südafrikanischen Schriftstellerin, Journalistin und Verlegerin Zukiswa Wanner und der bolivianischen Künstlerin und Museumsdirektorin Elvira Espejo Ayca die Goethe-Medaille. Wegen der Corona-Pandemie fällt die Zeremonie in Weimar in der gewohnten Form aus. Es gibt am 28. August, Goethes Geburtstag, um 11 Uhr MEZ einen digitalen Festakt (goethe.de/goethe-medaille).

In der Jury-Begründung heißt es: Ian McEwans „Schaffen ist vom Wesen des Widerspruchs und der kritischen, tiefenpsychologischen Reflexion gesamtgesellschaftlicher Phänomene durchdrungen. Trotz harscher Angriffe im eigenen Land setzt er sich zudem offen gegen engstirnige Nationalismen ein und tritt als leidenschaftlicher Pro-Europäer auf.“

Mister McEwan, leider können Sie zu Goethes Geburtstag nicht nach Weimar kommen, daher das Gespräch per Skype. Wie geht es Ihnen zu Hause in Gloucestershire?
Ja, ich bedaure das sehr, ich war schon lange nicht mehr in Weimar und bin sehr enttäuscht. Ich hatte eine Lesung über den jungen Johann Sebastian Bach und seinen Pilgerweg von Arnstadt nach Lübeck vorbereitet – über 400 Kilometer, um die Musik von Buxtehude zu hören. Wandern durch die deutsche Landschaft, da kommen viele meiner Leidenschaften zusammen. Aber wir gehen auf Nummer sicher. Wir sind hier in einer Art Lockdown, und ich fürchte, mit dieser Regierung wird das noch lange so bleiben.

Sie haben die Brexit-Politik heftig kritisiert und mit „Cockroach“ eine scharfe Boris-Johnson-Satire geschrieben.
Wir befinden uns in einer schmerzhaften Lernkurve. Diese Krise zeigt Schwächen im System auf, die es vorher schon gab. Die letzte Finanzkrise hat das Land schwer getroffen. Man kann privaten Unternehmen die Regierungsgeschäfte nicht überlassen. Aber das wussten wir längst.

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Wie können wir die Briten nach Europa zurückholen?
Geben Sie jedem von uns die Goethe-Medaille!

Davon gibt es immer nur drei pro Jahr. Wir hätten auch noch den Büchner- und den Kleistpreis.
Die sind auch gut. Ich denke, dass wir am Ende des Jahres raus sind, mit oder ohne Deal. Aber an der nordirischen Grenze haben wir jetzt schon Probleme, und das ist nur ein Teil dieses Albtraums. Möglicherweise kommt so etwas wie eine Zollunion, aber eine Rückkehr in die EU zu meinen Lebzeiten erscheint mir unwahrscheinlich.

Sie haben eine Kakerlake in Downing Street 10 installiert. Kein gutes Zeichen: Die überleben alles.
Stimmt. Kakerlaken und Quallen bleiben.

Sie werden geehrt, weil Sie sich für kulturellen Austausch, Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit einsetzen. So drückt es Klaus-Dieter Lehmann aus, der Präsident des Goethe-Instituts. Sie haben schon viele Preise gewonnen. Was bedeutet Ihnen die Goethe-Auszeichnung?
Diesen Brexit-Kampf haben wir verloren. Aber die kulturellen Verbindungen in Europa sind unzerstörbar, ganz gleich, was als Nächstes auf politischer und wirtschaftlicher Ebene geschieht. Normalerweise reise ich drei- oder viermal im Jahr nach Deutschland. Neben der angloamerikanischen Welt habe ich im deutschsprachigen Raum die meisten Leser. Und für einen Schriftsteller wie mich, der sich mit Wissenschaft beschäftigt, ist Goethe ein nahezu perfekter freier Geist.

Im September erscheint bei Diogenes Ihr neues Buch „Erkenntnis und Schönheit“. Sie schreiben über Charles Darwin und Albert Einstein und E. O. Wilson, wie Goethe sind Sie auf den Gebieten der Literatur und Wissenschaft unterwegs.
Goethe hat sich in vielen Dingen geirrt, er war kein großer Experimentator, aber er hat Maßstäbe für Generationen von Forschern nach ihm gesetzt, auch für Darwin. Wenn ich jemand auf einen fernen Planeten schicken sollte, der die menschliche Spezies vertritt, dann wäre es Goethe.

Wie wäre es, wenn Alexander von Humboldt mitkommt, er war ein geübter Entdeckungsreisender und wusste noch mehr über unsere Welt?
Ja, aber Humboldt hat nicht auch noch fantastische Romane, Gedichte und Dramen geschrieben. Goethe hatte vielleicht den Vorteil, in einer Zeit zu leben, in der ein einzelner Mensch nahezu das gesamte vorhandene Wissen erfassen konnte. Danach war das nicht mehr möglich.

In Ihrem Buch gehen Sie auch der Frage nach, was die Welt stärker prägt und verändert, Literatur oder Naturwissenschaft. Kann man das messen?
Nein, sicher nicht. Es handelt sich um parallele Erklärungsansätze mit sehr unterschiedlichen Methoden. Zum Beispiel wissen wir eine Menge darüber, wie das Gehirn funktioniert. Aber das verrät uns noch nicht, wie der Mensch Erfahrungen macht, was das Individuelle ist – in einer Stadt, in einer Beziehung, in der Gesellschaft. Gleichzeitig sind wir, ohne es im Detail zu wissen oder wahrzunehmen, von wissenschaftlichen Errungenschaften abhängig. Sie prägen unser Leben und die Literatur.

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Sie schreiben auch, dass wir immer weniger verstehen, was die Wissenschaft hervorbringt. Wer kann schon die Relativitätstheorie erklären?
Heutzutage hätte Goethe einen schweren Stand, denn man muss ein verdammt guter Mathematiker sein, um mit Einsteins Theorie oder Quantenmechanik etwas anfangen zu können. Der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman hat einmal gesagt, er habe über Jahrzehnte vielleicht vierzig Bücher über Quantenmechanik gelesen und es immer noch nicht verstanden.

Sie lesen jede Menge naturwissenschaftlicher Bücher. Woher kommt Ihr Interesse?
Neugier. Ich organisiere gleichsam meine Neugier. Ich kann mir nicht vorstellen, mich nicht dafür zu interessieren. Ich wäre dann abgeschnitten von der Welt. Früher vertrauten die Menschen auf Priester, aber es hat sich herausgestellt, dass die Kirche in fast allen Fragen falsch lag, nehmen Sie nur das Beispiel von Galileo. Es gibt Literatur, es gibt Musik, aber auch in den Naturwissenschaften findet sich Schönheit.

Sie haben eine spezielle Beziehung zu Berlin. Wie ist das entstanden?
Mein Vater war als Soldat in Hannover stationiert, und wir waren zum Zelten im Harz. Ich war dreizehn Jahre alt. Plötzlich wurde er zurückbeordert, etwas Wichtiges war passiert. Das war der Bau der Mauer. Und als die Mauer fiel, war ich in Berlin, am 9. und 10. November 1989. Die beiden Daten rahmen in gewisser Weise einen großen Teil meines Lebens als Erwachsener ein. Bis heute empfinde ich es als große Überraschung, dass man durch das Brandenburger Tor gehen kann. Und die vielen neuen Gebäude in der Stadt sind mir nach wie vor fremd.

Das geht auch manchen Berlinern so. Eine Art Kulturschock?
Letztes Jahr war ich mit meiner Frau im Grunewald, und wir kamen am Nacktbadestrand vorbei. Seltsamer Anblick für Briten, wir haben mit Nudismus ein Problem. Es sind auch nicht immer die attraktivsten Menschen, die da in der Sonne liegen. Haben Sie kürzlich das Video mit dem dicken nackten Mann gesehen, der dem Wildschwein hinterherrennt?

Die Geschichte mit dem Laptop in der Tasche? Die Sau wollte Essen stehlen.
Ich habe seit langer Zeit nicht mehr so gelacht. Und irgendwie habe ich darin Berlin erkannt, die Szene gab mir ein gutes Gefühl von der Stadt.

Ein Happy End. Der Mann bekam seinen Computer zurück.
Offensichtlich merkte das Tier, dass die Beute nicht essbar war.

Interessant, wohin so ein Gespräch treibt – von Goethe zum Nacktbaden, was im Übrigen eine starke deutsche Tradition ist.
Und mehr ein Fall für die Literatur als für die Wissenschaft.

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